Sams-Erfinder Paul Maar und Olchi-Autor Erhard DietlDie traurige Vergangenheit der heiteren Kinderbuchautoren

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Verstehen sich als Seelenverwandte: Erhard Dietl mit einem Olchi (links) und Paul Maar mit dem Sams bei einem Treffen in Bamberg.
Verstehen sich als Seelenverwandte: Erhard Dietl mit einem Olchi (links) und Paul Maar mit dem Sams bei einem Treffen in Bamberg. (Foto: Stephan Rumpf)

Erhard Dietl und Paul Maar sind die „Väter“ der berühmten Kinderbuchhelden Olchis und Sams. In ihren Werken beschreiben sie liebevolle Familienverhältnisse – dabei war ihre eigene Kindheit geprägt von Gewalt. Eine Begegnung.

Interview von Barbara Hordych, Bamberg

Paul Maars Haus liegt in der Altstadt von Bamberg. Zum Kaffee serviert er „Hörnla“, zum Gespräch führt er durch das Arbeitszimmer ins Wohnzimmer. Dort nehmen er und sein Münchner Autorenkollege Erhard Dietl auf dem Sofa Platz. Neben ihnen lehnen eine Sams- und eine Olchipuppe in der Ecke – ihre berühmtesten Kinderbuchhelden, die sich jetzt erstmals in einem gemeinsamen Theaterstück begegnen.

SZ: Herr Maar, Herr Dietl, nach mehr als 100 Büchern für Kinder haben Sie zuletzt Ihre komplexen Vater-Sohn-Beziehungen in Autobiografien aufgearbeitet. In  „Wie alles kam“ und „Ein Vater wie meiner“ geht es um widersprüchliche und sehr gewaltvolle Vater-Figuren …

Paul Maar: In meiner Kindheit, bis etwa vier Jahre, habe ich einen sehr liebevollen Vater erlebt. Der mit mir zum Schwimmen an den Main ging, mit mir am Ufer saß und sprach. Dann wurde er zum Krieg eingezogen und erlebte wohl schreckliche Dinge, wie er mal andeutete. Nach dem Krieg kam er in amerikanische Gefangenschaft. Danach war er ein anderer.

Können Sie das konkreter beschreiben?

Maar: Ich war zehn Jahre alt, als mir auf der Dorfstraße in Obertheres, wo meine Mutter und ich hingezogen waren, nachdem wir in Schweinfurt ausgebombt wurden, ein abgemagerter Mann in einem ausrangierten Armeemantel entgegenkam. „Wer ist das?“, fragte ich meine Mutter. Die eigentlich meine Stiefmutter war, meine leibliche Mutter war kurz nach meiner Geburt gestorben. „Aber das ist doch dein Vater, geh hin zu ihm und gib ihm einen Kuss!“, forderte sie mich auf.

Wie reagierten Sie?

Maar: Mit Abneigung. Sie müssen wissen, bis dahin hatte ich immer neben meiner Mutter geschlafen. Sie hatte die Ehebetten auseinandergerückt und ein Nachtkästel dazwischengestellt. Jeden Abend lagen wir so nebeneinander und erzählten uns Geschichten. Als mein Vater zurückkam, war das Erste, was er tat, dass er die Ehebetten zusammenschob und mich in so ein Kämmerchen steckte, in dem meine Großeltern, die eine Wirtschaft führten, alte Bierkästen stapelten. Da wurde ein Bett reingestellt, das war dann mein Zimmer. Und da kann man sich vorstellen, dass ich nicht gut auf ihn zu sprechen war. Ich habe ihm die kalte Schulter gezeigt, was er gespürt hat, worauf er völlig zumachte. Das Ergebnis war, dass ich beim geringsten Vergehen Schläge bekam.

Erhard Dietl: Mein Vater war ein unglücklicher Mensch. Das hatte aber weniger mit dem Krieg zu tun, er wurde 1925 geboren und war nur einige Monate noch eingezogen worden. Aber er war zerrissen zwischen seinen Ambitionen, wollte Thomas Mann nacheifern oder mindestens ein Beethoven oder Mozart sein. Er war zwar belesen und auch musikalisch, aber dafür reichte es nicht. Dazu kam, dass er schon auf der Hochzeitsreise meiner Mutter erklärte, dass eine Ehe eigentlich nichts für ihn sei, er auch keine Familie wolle. Meine Mutter hat zwei Tage lang geweint. Dann ist er doch bei ihr geblieben, hat mit ihr zwei Kinder gezeugt, meine jüngere Schwester und mich. Aber eigentlich hat er keine Lust gehabt auf seine Frau, und auf uns Kinder schon gar nicht.

Wie hat er Sie das spüren lassen?

Dietl: Ganz konkret mit einem Bambusstock, der oben auf dem Küchenschrank lag. Mit dem hat er uns geprügelt, wenn er sich durch uns gestört fühlte. Meine damals zweijährige Schwester schlug er einmal sogar so sehr, dass meine Mutter heimlich mit ihr zur Kinderärztin ging, um ihr die blauen Flecken zu zeigen. Aber angezeigt hat sie ihn nicht.

Maar: Mein Vater schnitt sich aus einem Gartenschlauch ein 50 Zentimeter großes Stück heraus, das war sein Bestrafungsgerät. Mit dem schlug er mich unten in der Waschküche, damit die Nachbarn oben im Mehrfamilienhaus meine Schreie nicht hörten.

Ihre Mütter sind nie dagegen eingeschritten?

Dietl: Nein. Meine Mutter ging immer ins Nebenzimmer, wenn mein Vater uns in der Küche verprügelte.

Maar: Wenn ich aus der Waschküche nach oben kam, sah ich, dass meine Mutter ganz verweinte Augen hatte. Aber unternommen hat auch sie nichts.

Dietl: Eigentlich mache ich diesen Müttern heute zum Vorwurf, dass sie nicht eingeschritten sind.

Maar: Man muss allerdings bedenken: Der Pfarrer auf der Kanzel predigte damals am Sonntag, wer seine Kinder liebe, der züchtigt sie. Es war wie eine Pflicht.

Dietl: Ich bin zwar einige Jahre jünger als der Paul, aber auch bei mir war noch eine Watschn in der Schule nichts Besonderes, das war an der Tagesordnung.

Gegen die Ehefrauen wurden Ihre Väter aber nicht gewalttätig?

Dietl: Nicht körperlich. Aber emotional schon. Mein Vater führte über viele Jahre ein Doppelleben, mit einer alleinerziehenden Freundin. Mit ihr habe ich mich getroffen, als ich mein Vater-Buch schrieb. Und sie erzählte mir, was für ein wunderbarer Mensch er gewesen sei. Wie sehr ihr Sohn ihn geliebt hätte, wie toll er Klavier spielte. Ich wusste bis dahin überhaupt nicht, dass er das konnte! Meine Mutter dagegen verteufelte ihn. Nach seinem Tod wollte sie noch nicht einmal ein Foto von ihm in der Wohnung aufstellen.

Maar: Auch mein Vater war nicht gewalttätig meiner Stiefmutter gegenüber, die für mich wie meine Mutter war. Aber wenn er getrunken hatte, fing er an zu weinen, weil er an seine erste Frau Betty denken musste, die er sehr geliebt hatte. Weil jetzt beim Regen ihr Grab nass würde. Meine Stiefmutter war mehrmals kurz davor, ihn zu verlassen, blieb dann aber doch.

Paul Maar zeichnet an seinem Schreibtisch in Bamberg ein Sams.
Paul Maar zeichnet an seinem Schreibtisch in Bamberg ein Sams. (Foto: Stephan Rumpf)

In ihren bekanntesten Büchern, mit den Kinderbuchfiguren Sams und Olchis, geht es indes familiär ganz anders zu …

Dietl: Ja, die Olchis leben in einem liebevollen Familienverbund, haben viel Zeit füreinander, weil sie so gemütlich in den Tag hineinleben, sind vorurteilsfrei und offen. Sie zeigen uns eine positive und angenehme Gegenwelt, fühlen sich sehr wohl miteinander, streiten sich auch nicht, wenn überhaupt, dann nur mit der Außenwelt. Sie sind gewissermaßen Vorbilder.

Maar: Der Janosch hat einmal gesagt: Für Kinderbuchautoren gebe es zwei Wege: Die einen hätten eine sonnige Kindheit erlebt, die sie gewissermaßen konservieren. So wie Astrid Lindgren, die sich an ihre glückliche Kindheit erinnerte, als es ihr nicht gut ging, sie als alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn in Stockholm saß und sich mühsam als Sekretärin ernährte. Sie schrieb die Bullerbü-Geschichten, um andere, positive Zeiten heraufzubeschwören.

Und die Autoren mit einer unglücklichen Kindheit?

Maar: Die versuchen mit ihren Büchern, eine sonnige Kindheit zu imaginieren, die sie nie hatten, meinte Janosch. Der von sich erzählte, dass er von seinem Vater sogar mit Ketten geprügelt wurde.

Auffällig ist, dass beide Figuren, die Olchis wie das Sams, anarchistische Züge aufweisen.

Maar: Das kam Anfang der Achtzigerjahre nicht überall gut an. Das Sams führt ja Oberkellner, Polizisten, ganz allgemein die Autoritätspersonen an der Nase herum, stellt Fragen, bringt sie in Verlegenheit. Was dazu geführt hat, dass mir einmal eine Abiturientin aus Coburg erzählt hat, dass sie mit einer Schülergruppe „Eine Woche voller Samstage“ aufführen wollte. Dann hat der Direktor gesagt, so ein „aufmüpfiges Stück“ werde an seiner Schule nicht aufgeführt. Also zeigte die Gruppe ihr Stück in einem Wirtshaussaal. Sie fiel kurz danach durch das Abitur, und sie behauptete, die Aufführung sei dafür der Grund gewesen. Ob das die Wahrheit ist, weiß ich natürlich nicht.

Dietl: Da gibt es ganz witzige Parallelen. Damals in den Neunzigern machte ich noch viel mehr Lesungen an Schulen. Einmal fing mich der Lehrer auf dem Gang ab, sagte: Herr Dietl, das ist schön, dass Sie heute bei uns sind. Aber dürfte ich Sie bitten, nichts von den Olchis zu lesen? Als ich ihn fragte, warum denn nicht, ob er die Figuren kenne, sagte er: Nein, gelesen habe er die Bücher nicht. Nur gehört, dass sie es gerne schmutzig haben und sie Ausdrücke verwenden wie „Schleime-Schlamm und Käsefuß“. Wobei die Lehrer heute das kreative Potenzial in den olchigen Ausdrücken schätzen und Kinder zu eigenen Wortschöpfungen ermuntern.

Auch das Sams und sein Mensch, Herr Taschenbier, haben ein sehr liebevolles Vater- Sohn-Verhältnis zueinander.

Maar: Der Herr Taschenbier lernt sogar sehr viel durch das Sams. Er ist am Anfang ein extrem schüchterner Mensch, der sich herumschubsen lässt. Schon im Verlauf der ersten Sams-Geschichte wird er etwas freier, sagt zum ersten Mal Nein zur Vermieterin Frau Rotkohl. Im Lauf der weiteren Sams-Bücher wird er dann immer emanzipierter.

Dietl: Hast du, Paul, beim Beschreiben von Herrn Taschenbier an dich selbst gedacht?

Maar: Ja, schon. Als 16-/17-Jähriger war ich extrem schüchtern, vielleicht auch durch diesen autoritären Vater. Man musste, wenn er ins Zimmer kam, möglichst unauffällig in eine Ecke gehen, am besten mit der Tapete verschmelzen. Alle anderen hatten auch schon eine Freundin, nur ich nicht. Als ich dann später die Sams-Geschichten geschrieben habe, konnte ich mich schon ein bisschen mit Herrn Taschenbier identifizieren.

War das bei Ihnen ähnlich, Herr Dietl?

Dietl: Nein, das war bei mir anders. Auch wenn ich durch den aggressiven Vater verunsichert war, war ich doch insgesamt kein schüchterner Mensch. Eher ein lustiger, aufgeweckter Bub.

Maar: Das kann ich mir bei dir auch gut vorstellen.

Dietl: Ich habe mein Radl und meine Freunde gehabt, war den ganzen Tag unterwegs, die meiste Zeit draußen. Ich habe trotz allem ein schönes Gefühl, was meine Kindheit angeht. Ich hatte liebevolle Großeltern mit einem tollen Garten, dazu eine Handvoll Freunde, das hat mir eigentlich schon gereicht. Daheim war man nur, wenn es notwendig war.

Sie haben jeweils drei Kinder, auch schon Enkelkinder. Wie würden Sie sich selbst als Väter charakterisieren?

Dietl: Auf jeden Fall ganz anders als mein eigener Vater. Ich bin jetzt zum zweiten Mal verheiratet, und meine Frau wirft mir öfter vor, ich hätte zu wenig Autorität in der Erziehung, würde meiner Tochter, die jetzt im Teenageralter ist, zu viel durchgehen lassen.

Maar: Meine Frau hat mir früher immer vorgeworfen, ich würde ihr bei der Erziehung in den Rücken fallen. Wenn sie zu unserer Tochter sagte, sie solle ihr Zimmer aufräumen, habe ich zu Katja gesagt: Komm, ich helfe dir, das machen wir jetzt zusammen.

Welche Gefühle hegen Sie als „Väter“ ihren berühmten Figuren gegenüber?

Maar: Bei mir sind sie ein wenig ambivalent. Denn überall, wo ich hinkomme, egal ob in eine Buchhandlung, eine Schule oder eine Bibliothek, heißt es: Da kommt der Sams-Autor! Dabei ist mein Lieblingsbuch „Lippels Traum“, sowieso habe ich noch 60 andere Bücher geschrieben.

Dietl (lacht): Genau so ist es bei mir! Es gab Zeiten, da habe ich versucht, dagegen anzusteuern. Habe bei Veranstaltungen erst aus meinen anderen Büchern vorgelesen. Aufgeblüht sind die Kinder aber immer dann, wenn die Olchis an der Reihe waren. Also habe ich mich irgendwann gefügt, gedacht, okay, dann ist es halt so. Derzeit entsteht der zweite Olchi-Kinofilm, es gibt die Planetarium-Shows.

Maar: Und ich muss zugeben: Genau deshalb, weil sich die Sams-Bücher so gut verkaufen, kann ich mir dieses Haus hier leisten. Da darf ich nicht sauer auf es sein (er stupst die Sams-Figur liebevoll auf die Nase).

Dietl: Es ist wie beim Paul: Der Erfolg gibt den Olchis recht. Mittlerweile sind es immer neue Kindergenerationen, die mit diesen Geschichten aufgewachsen sind. Mir begegnen in den Schulen Lehrerinnen, die sagen: Ach, Herr Dietl, die Olchis habe ich als Kind so gerne gelesen … daran merkst du, dass du älter wirst.

Maar: Das erlebt meine Tochter Anne als Chefin vom fränkischen Landestheater Maßbach ähnlich. Sie sagt, nach vier Jahren kann sie das Sams immer wieder spielen. Die Kinder, die damals zehn waren, sind jetzt vierzehn Jahre alt, die interessiert das nicht mehr. Aber die, die damals vielleicht fünf Jahre alt waren, sind nun voll dabei.

Hier eine auberginenförmige Knubbelnase und Hörhörner, dort eine Schweinchennase und Wunschpunkte als Markenzeichen: In dem Theaterstück „Sams und Olchis werden Freunde“ treffen die berühmten Kinderbuchfiguren erstmals aufeinander.
Hier eine auberginenförmige Knubbelnase und Hörhörner, dort eine Schweinchennase und Wunschpunkte als Markenzeichen: In dem Theaterstück „Sams und Olchis werden Freunde“ treffen die berühmten Kinderbuchfiguren erstmals aufeinander. (Foto: Stephan Rumpf)

Nun ist es eine kleine Sensation, dass sich in Ihrer beider Theaterstück „Sams und Olchis werden Freunde“ Ihre berühmtesten Figuren aus unterschiedlichen Kinderbuchwelten erstmals begegnen.

Maar: Rein sachlich hat es den großen Vorteil gehabt, dass wir beide im gleichen Verlag schreiben. Sonst wäre das nicht so einfach gewesen.

Dietl: Und inhaltlich gab es sowieso keine Probleme (er rückt seine Olchi-Figur näher an das Sams heran). Die beiden sind ohnehin so etwas wie Seelenverwandte.

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