Mordprozess in Erlangen:Die Macht der Kleinigkeiten

Eine Limousine, eine Beleidigung und DNS unter den Fingernägeln: Im Prozess um den Mord an einer Arzthelferin im Jahr 1999 gibt es nur Indizien. Am Dienstag soll das Urteil fallen.

Olaf Przybilla

Viereinhalb Stunden lang hat Wolfgang Gründler ein Indiz an das nächste gereiht. Es geht um eine weiße Limousine, die jemand gesehen haben will am Morgen des 5. März 1999 in der Nähe einer Erlanger Tiefgarage. Es geht um einen Passanten, der den Fahrer dieser Limousine einen "Hessentrottel" geschimpft haben soll. Um eine Telefonzelle in Bad Windsheim geht es, um eine Gefängniszelle und deren Insassen und darum, wie DNS-Spuren unter einen Fingernagel gelangen können.

Erlangen, ddp

Ein Polizist bei einer Tatortbesichtigung vor einer Tiefgarage in Erlangen. Hier wurde im März 1999 die Arzthelferin Susanne M. erstochen.

(Foto: Foto: ddp)

Es scheinen sehr disparate Dinge zu sein, die Oberstaatsanwalt Gründler vorträgt. Am Ende der viereinhalb Stunden aber steht sein Satz: "Es steht ohne jeden Zweifel fest: Peter S. ist der Mörder von Susanne M."

Susanne M. wurde am Morgen im März 1999 mit mehreren Messerstichen getötet. Im Untergeschoss eines Parkhauses in der Erlanger Nägelsbachstraße soll ihr der Mörder gegen 7.30 Uhr auf dem Stellplatz 23 aufgelauert haben. Die 27 Jahre alte Arzthelferin war auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz.

Deutet der Oberstaatsanwalt die Indizien richtig, dann kannte die junge Mutter ihren Mörder, ließ sich auf ein Gespräch mit ihm ein und zündete sich dabei eine Zigarette an. Wenig später hat ihr Mörder zugestochen. Für den Staatsanwalt kann das nur Peter S. gewesen sein.

Seine Tochter hat der Angeklagte missbraucht

735 Seiten umfasst die Anklageschrift, 500 Zeugen hat Gründler benannt und 29 Sachverständige. Zumindest ein Ergebnis förderte einer der größten Indizienprozesse in der Geschichte der Nürnberger Schwurgerichtskammer zutage: Der 45 Jahre alte Angeklagte hat seine damals 13 Jahre alte Tochter Sandra (Name geändert) mehrfach sexuell missbraucht. Die Taten sind Teil der Anklage, und S. hat sie eingeräumt.

Er wird also am Dienstag, wenn das Urteil fallen soll, schuldig gesprochen werden. Ob er aber auch wegen des Mordes an Susanne M. verurteilt wird, ist völlig offen.

Der Oberstaatsanwalt legt ein Mordmotiv zugrunde: Mit seiner Tat soll der Landschaftsgärtner S. zu verhindern versucht haben, dass sich seine Tochter Sandra ihrer Patentante Susanne M. anvertraut. Für den Nachmittag des 5. März 1999 war die Patentante verabredet mit Sandra. Nach der Schule wollten sie sich treffen. Hätte Sandra bei dieser Gelegenheit davon erzählt, was der Vater mit ihr macht, dann hätte Peter S. nicht nur eine Anzeige fürchten müssen. Dann hätte der Vater auch - so formuliert es Staatsanwalt Gründler - um den Verlust seiner "Ersatzhausfrau, Ersatzmutter, Ersatzehefrau" fürchten müssen. Genau dazu habe S. seine Tochter jahrelang gemacht.

Peter Doll brauchte keine viereinhalb Stunden für seine Gegenrede. Der Anwalt von S. gilt als einer, der Anklageschriften torpedieren und Staatsanwälte aus der Fassung bringen kann. Auch im Prozess gegen S. ist das mitunter gelungen. Es gab einen Moment, da brüllte Staatsanwalt Gründler den Rechtsanwalt Doll mit zornesrotem Gesicht an, dieser möge "nun endlich mal den Mund halten".

Ein gezielt eingefädeltes Festnahmekommando?

Weil über dem Nürnberger Schwurgerichtssaal 600 momentan ein Museum gebaut wird, müssen Kapitalverbrechen im schmalen Saal 228 verhandelt werden. Man sitzt nahe beieinander, auf das Klima der Verhandlung scheint sich das auszuwirken. Als die ehemalige Partnerin von S. nach einer Aussage mitten im Prozess festgenommen wird - sie wird der Falschaussage vor Gericht bezichtigt - tobt Doll über ein gezielt eingefädeltes "Festnahmekommando" und über skandalöse Umstände im Gerichtssaal. Während seines Plädoyers aber wirkt Doll dann ganz ruhig. Er scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein.

Für jedes Argument gibt es ein Gegenargument

Doll bescheinigt Gründler, fleißig gearbeitet zu haben. "Aber die Quantität der Indizien ersetzt nicht deren Qualität", sagt er. Zumal es für jedes Argument der Indizienkette ein Gegenargument gebe.

Es war eine helle Limousine, die ein Passant gesehen haben will am Morgen vor der Tiefgarage. Aber er sah einen BMW, und S. fährt einen Audi. Nach einer Hypnose glaubte sich ein Augenzeuge an Details des Fluchtfahrzeugs zu erinnern. Er entsann sich jedoch auch, den Fahrer des Wagens, der ihn fast angefahren hätte, einen "Hessentrottel" genannt zu haben. S. aber wohnt in Dechsendorf bei Erlangen, und sein Audi ist nicht in Hessen zugelassen. Von einer Telefonzelle in Bad Windsheim aus soll ein Mann nach der Tat eine falsche Spur zu legen versucht haben. Ein Stimmenvergleich ergab, dass der Anrufer ähnlich klingen soll wie S. - wer aber vermag das fast zehn Jahre nach einem Telefonat sicher zu sagen?

Auch soll S. in der Untersuchungshaft davon gesprochen haben, er wisse, wie sich ein "Blutrausch" anfühle. Die Mithäftlinge jedoch gaben zu, sich von ihrer Aussage Hafterleichterungen versprochen zu haben. Und natürlich, räumt Doll ein, hätte S. ein Problem bekommen, wenn sich seine Tochter ihrer Patentante anvertraut hätte. Aber wenn er ausschließen hätte wollen, dass Sandra irgendwem von den Übergriffen berichtet, "dann hätte S. halb Dechsendorf umbringen müssen", sagt Doll. Unter einem Fingernagel der getöteten Susanne M. wurden DNS-Spuren sichergestellt. Ein Abgleich ergab, dass es sich nicht um die DNS von S. handelt. Es sei aber möglich, dass die genetischen Spuren vom verschmutzten Fußboden der Tiefgarage stammen, sagte ein Gutachter aus.

Wie das Urteil am Dienstag ausfällt, gilt auch in Justizkreisen als völlig ungewiss. Richard Caspar, Vorsitzender der Schwurgerichtskammer, hat sich in keinem Moment des Prozesses anmerken lassen, ob er die Indizien für tragfähig hält.

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