Mitten in Bayern:Die Zeit steht still im kleinen Vallried

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Morgens halb zehn in Deutschland - das ist laut der Werbung eines Süßigkeiten-Fabrikanten ein Fixpunkt des Tages, egal wo und für wen. Und Viertel vor sechs? Das ist es in einem Örtchen im Landkreis Augsburg - und zwar immer!

Kolumne von Johann Osel

Was sich Tag für Tag "morgens halb zehn in Deutschland" so zuträgt, hat bekanntlich der Fabrikant schokoladiger Waffelschnitten in einem Werbespot festgelegt. Demnach beißen punktgenau um diese Uhrzeit Pfarrer, Bauarbeiter oder Tischler am Arbeitsplatz in besagte Süßigkeit, ebenso Cabriofahrer, Anzugträger und Familien. Dass sich jemand vormittags ein Pfund Presssack mit Essiggürkchen genehmigt oder gar eine "Superfood-Buddha-Bowl" mit Quinoa und Avocado, lässt die Reklame zwar außen vor; dennoch hat sie damit eine Art geflügeltes Wort erschaffen. Es gilt als fast so symbolisch wie das berühmte "Fünf vor zwölf". Das schlägt es im heutigen Sprachgebrauch übrigens ständig, das Pressearchiv zeigt: Längst werden selbst kleine Kalamitäten damit etikettiert. "Viertel vor sechs" ist als feste Wendung dagegen nur recht regional bekannt - in Vallried, Teil des Marktes Zusmarshausen im Landkreis Augsburg.

Seit Monaten schon tickt da die Turmuhr der malerischen Kapelle St. Maria nicht mehr - so ist es in Vallried stets Viertel vor sechs (ob morgens oder abends, weiß man nicht). Was immer die 200 Einwohner auch treiben, ob die Kinder sich zur Schule aufmachen, die Bürger schlafen oder sogar jemand ein "Knoppers" verspeist - die Zeit steht still. Dabei ist der historische Zeitmesser nicht defekt. Vielmehr kann der Mesner, Mitte 80, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr hinaufsteigen in den Glockenturm und mittels einer Kurbel das schwere Uhrwerk für jeweils 24 Stunden in Fahrt bringen. Eine Mesnerkollegin schaut zwar im Schmuckstück Vallrieds öfters nach dem Rechten, ist aber kaum geübt im Kurbeldrehen, Zeitnot kommt hinzu. Die Augsburger Allgemeine sowie die BR-Abendschau hatten zuerst darüber berichtet.

Im Grunde ist das eine herrliche Vorstellung: immerwährende Zeitlosigkeit. Mag der Rest der Welt krakeelen, es sei fünf vor zwölf in dieser oder jenen Causa, so hat man im kleinen Vallried seine heilige Ruhe. Andererseits: Wenn in St. Maria Dorfkinder getauft oder Paare vermählt werden, wüsste man doch gern, wann genau das stattfindet. Geplant ist daher ein modernes Zeit- und Glockensystem; der Bürgermeister des Marktes, dem die Kapelle gehört, will nun 30 000 Euro investieren. Das braucht aber noch etwas Zeit.

© SZ vom 21.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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