Misshandlungs-Verdacht mit Folgen:Frau will Kind schützen - und wird selbst verurteilt

Sie wollte nur Zivilcourage zeigen, jetzt ist sie eine Straftäterin. Die Mitarbeiterin einer Gemeindeverwaltung hört von Gewalt in einer Familie, sie geht dem Gerücht nach und schließlich landet der Fall beim Jugendamt. Doch am Ende steht die Frau selbst vor Gericht - und wird wegen übler Nachrede verurteilt.

Ulrike Heidenreich

59 Jahre lang hatte Frau Meier aus einer kleinen Gemeinde im Landkreis Rosenheim nichts mit der Justiz zu tun. Jetzt ist sie eine Straftäterin. Würde sie es wieder tun? "Ja, immer wieder", sagt Frau Meier - und zögert dabei keine Sekunde.

Misshandlungs-Verdacht mit Folgen: Was darf man sagen, wenn Kindern möglicherweise Gewalt angetan wird? Eine Frau ist wegen ihres Hinweises darauf verurteilt worden, ihr Rosenheimer Anwalt zeigt die Handakte.

Was darf man sagen, wenn Kindern möglicherweise Gewalt angetan wird? Eine Frau ist wegen ihres Hinweises darauf verurteilt worden, ihr Rosenheimer Anwalt zeigt die Handakte.

Die Gemeindemitarbeiterin hatte im August 2010 den Hinweis erhalten, dass es bei einer Familie im Dorf laut und gewalttätig zugehe. Nach langem Abwägen informierte sie die Leiterin des einzigen Kindergartens im Ort über den Verdacht - mit der Bitte, ein Auge auf die Kinder zu haben. Dafür wurde Frau Meier jetzt vom Amtsgericht Rosenheim verurteilt: zu einer Geldstrafe über 1050 Euro. Ihr Vergehen lautet: üble Nachrede.

In Rosenheim und Umgebung stößt der Richterspruch in diesen Tagen auf Empörung, Unverständnis, Verzweiflung und endet in der Frage, wie viel Zivilcourage erlaubt ist, wenn irgendwo unter bayerischen Dächern Kindern möglicherweise Gewalt angetan wird.

Die Unbeirrbarkeit von Frau Meier ist vielleicht die einzige gute Nachricht in einer Geschichte, in der alle Beteiligten Schaden genommen haben. Der richtige Name von Frau Meier und ihres Dorfes im Landkreis Rosenheim soll hier nicht genannt werden - der Schaden in dieser Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, könnte sonst noch größer werden.

Frau Meier ist mit ihrem Rechtsanwalt Wolfgang Sparrer ins Hinterstüberl eines Rosenheimer Lokals gekommen, hier kennt sie niemand. Sie legt konzentriert die Hände übereinander und sagt: "Wenn was passieren würde mit einem Kind und ich hätte davon gewusst und nichts getan - das würde ich mir nie verzeihen."

Die kleine zierliche Frau ist selbst mehrfache Mutter und Großmutter, von Gewalt in der Familie hatte sie bislang nur gelesen oder im Fernsehen jene schrecklichen Fälle verfolgt, wenn wieder alle weggeschaut hatten und keiner gehandelt hatte. Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren in der Verwaltung der kleinen Gemeinde.

Eines Tages, im Sommer 2010, sprach sie jemand aus dem Dorf an: In einer Familie mit kleinen Kindern würde lautstark gestritten und auch geschlagen, die ganze Straße wüsste Bescheid.

Frau Meier sagt, dass sie da stutzig wurde, weil sie nun schon zum zweiten Mal davon gehört habe. "Ich habe ein paar Nächte darüber geschlafen, was ich tun könnte und mich mit einer Kollegin beraten. Dann bin ich zum Frauenhaus nach Rosenheim gefahren und habe dort um Rat gefragt." Sie habe nichts falsch machen wollen, niemanden lauthals verdächtigen wollen: "Ich bin ja eine Art Vertrauensperson. Auf dem Dorf heißt's ja schnell: Die tratscht alles rum."

"Da war ich fix und fertig"

Im Frauenhaus riet man Frau Meier, den Kindergarten oder die Schule zu informieren. Alle lobten sie für ihren Einsatz, Frau Meier fiel der Gang zur Erzieherin vier Wochen später trotzdem schwer.

Dann ging alles seinen Gang: Die Leiterin des Kindergartens informierte pflichtgemäß das Jugendamt. Dieses stattete sehr bald einen angemeldeten Besuch bei der Familie ab - mit dem Ergebnis, dass dort keine Missstände festzustellen seien. Der betroffene Familienvater verlangte nach Aufklärung: Umgehend erstattete er Anzeige gegen unbekannt wegen falscher Beschuldigung. Seine Familie würde nach den Vorwürfen im Dorf gemieden.

Frau Meier, die im November zum ersten Mal in ihrem Leben einen Gerichtssaal betreten hat - für ihre eigene Verhandlung -, berichtet fast schon juristisch routiniert, was dann geschah: Die Kindergartenchefin wurde zur Vernehmung in die Polizeiinspektion Rosenheim gerufen, berief sich auf ihre Schweigepflicht. Zwei Instanzen später wurde sie von der Schweigepflicht entbunden, musste Frau Meiers Namen nennen.

Im September schließlich kam der Strafbefehl wegen übler Nachrede ins Haus. "Da war ich fix und fertig, musste mich erst einmal hinsetzen", berichtet die Frau, von der ihr Anwalt sagt, dass sie doch nur "die Vermutung einer möglichen Gefährdung des Kindswohles" weitergeben wollte.

Anwalt Sparrer spricht von einer "verheerenden Wirkung" des Urteils. "Das schreckt andere Menschen ab. Es kann nicht sein, dass man selbst einen Verdacht verifizieren muss. Dafür haben wir doch die Jugendämter." Während der Verhandlung vor dem Rosenheimer Amtsgericht hatte der Richter Ralph Burkhard die Einstellung des Verfahren angeregt, die Angeklagte sollte eine Geldauflage von 400 Euro an den Kinderschutzbund entrichten.

Frau Meier lehnte ab. Der Richter eröffnete später seine Urteilsbegründung mit den Worten: "Das Gericht kann es nicht richtig machen." Nun sitzt er über der schriftlichen Begründung, will sich vorerst in der heiklen Sache nicht äußern. Sowohl der Anwalt als auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung eingelegt.

Von ihrem Chef, dem Bürgermeister, bekommt Frau Meier "riesengroßen Rückhalt", worüber sie unendlich froh ist. Sparrer berichtet vom Anruf eines empörten Kinderarztes bei ihm in der Rosenheimer Kanzlei, der gerne die Kosten für seine Mandantin übernehmen würde. Mitglieder des Rotary-Clubs Chiemsee haben sich solidarisch erklärt, wollen - falls es bei dem Strafmaß bleibt - einen Teil der Summe übernehmen.

Ein Brief an die Ministerin

Rotary-Präsident Jens Stadler erzählt, dass das Urteil sehr hitzig in seinem Umfeld diskutiert werde, er persönlich halte es für eine "Katastrophe": "In unserer Gesellschaft gibt es viel zu wenig Mut. Wenn dann jemand Missstände offenkundig machen möchte, wird er auch noch gedeckelt."

Auch der Rosenheimer Landrat Josef Niederhell hat sich eingeschaltet. In einem Brief an Sozialministerin Christine Haderthauer warnt er: "Es steht zu befürchten, dass Bürger in Zukunft gründlich überlegen werden, ob sie ihre Wahrnehmungen zu möglichen Gefährdungen des Kindeswohles auch weiterhin an die entsprechenden Stellen weitergeben werden."

Der Landrat sagt: "Besonders liegt mir am Herzen, dass bei der Beurteilung solcher Meldungen auch berücksichtigt wird, dass man sich bei einer Wahrnehmung täuschen kann. Dies darf nicht dazu führen, dass Bürger deshalb mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssen." Im Sozialministerium hält man sich mit einer Stellungnahme zurück, verweist auf das Justizministerium, keiner möchte etwas falsch machen.

Beim Kinderschutzbund Rosenheim verfolgt man die unglückliche Angelegenheit hingegen sehr betroffen. Geschäftsführerin Maria Klausner spricht von einer "totalen Verunsicherung in der Bevölkerung, die doch eigentlich zu Zivilcourage ermutigt werden sollte". Sowohl die Familie, bei der der Verdacht auf Verletzung des Kindswohls aufkam, als auch die verurteilte Gemeindemitarbeiterin bräuchten jetzt Unterstützung: "Da ist schmerzlicher Schaden auf allen Seiten entstanden."

Die Gemeindemitarbeiterin habe es "gut gemeint" und Verantwortung gezeigt, sie hätte jedoch eine Aktennotiz anlegen und den direkten Weg zu einer Beratungsstelle, etwa dem Kinderschutzbund-Telefon (0800-1110550) wählen müssen. Klausner: "Die Kette der Meldungsschlange war in diesem Fall zu lang, jeder verfärbt nun mal seine Wahrnehmung. Das hat es wohl für den Richter so schwierig gemacht."

Frau Meier nippt im Rosenheimer Restaurant an ihrem Tee, hält ihren Rücken sehr gerade und erzählt, dass sie als Gemeindemitarbeiterin manchmal 190 Seiten mit Auflagen für öffentliche Veranstaltungen erhalte. "Da kann man doch vielleicht auch einmal 50 Seiten vom Sozialministerium bekommen, wie man sich als Amtsperson verhalten soll, wenn es zum Verdacht auf Gewalt in einer Familie kommt", sagt sie fast bitter.

Sie hat einen Brief mit dieser Bitte an Frau Haderthauer geschrieben, sobald das Urteil schriftlich vorliegt, schickt sie beides zusammen nach München.

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