Süddeutsche Zeitung

Minderjährige Flüchtlinge:Falscher Geburtstag

Ein christliches Hilfswerk erhebt schwere Vorwürfe gegen bayerische Behörden: Sie sollen minderjährige Flüchtlinge systematisch für volljährig erklären - damit der Betreuungsaufwand für die Kinder sinkt. Die Regierung von Oberbayern will die Vorwürfe nun prüfen.

Von Heiner Effern und Katja Riedel

Wenn der Junge, der hier zu seinem Schutz Samir heißen soll, seine Geschichte erzählt, dann krempelt er die Hosenbeine seiner Jeans hoch und zeigt die handtellergroße Narbe an seinem Bein. Dreieinhalb Jahre sei sie alt, zwei Männer hätten ihn mit heißem Wasser übergossen, sagt er, sein Gesicht verzieht sich dabei vor Schmerz. Sie hätten ihn verletzt, weil er zur Schule gehen wollte, zu Hause in Pakistan. Seine Heimat habe er vor gut dreieinhalb Jahren verlassen, um an einem sicheren Ort leben und zur Schule zu gehen.

Samir hat keine Dokumente, die seine Identität beweisen, nicht sein Alter, nicht seine Geschichte. Aber nach der, sagt er, habe ihn bisher ohnehin noch niemand gefragt. Samir hat nun aber deutsche Dokumente, einen gelben Zettel zum Beispiel. Bekommen hat er den in der Erstaufnahmestelle für Asylsuchende in München, Boschetsrieder Straße, angesiedelt bei der Regierung von Oberbayern. Er versteht die deutsche Sprache nicht, er kann aber Zahlen lesen, und auf dem Zettel fand sich nicht sein Geburtsdatum, dafür aber eine andere Zahlenfolge: 31.12.1994.

Samir wollte den Zettel nicht unterschreiben. Man erklärte ihm, dass er dann keine Unterkunft bekomme. Samir unterschrieb nicht und ging. Eine regnerische Nacht lang lief er durch die Straßen Münchens. Am Ende war er mürbe und unterschrieb. Dass er, der sagt, er sei 16 Jahre alt, nun amtlich volljährig ist und sich mit seiner Unterschrift seiner Rechte als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling beraubt, weiß Samir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sein Rechtsbeistand bereitet deswegen nun eine Anzeige vor. Der Vorwurf der Nötigung steht im Raum.

Samir soll nicht der einzige Flüchtling sein, der nun offiziell am 31.12.1994 Geburtstag hat. Generell sollen gerade viele junge Flüchtlinge in Bayern unterwegs sein, die ein falsches Datum in den Papieren stehen haben. Und immer macht sie dieses Datum älter als 18 Jahre. Zu dieser Erkenntnis kommen Mitarbeiter der Inneren Mission, die die Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Münchner Bayernkaserne betreuen.

"Massiver Missstand"

In einem internen Papier, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, ist von einem "massiven Missstand diesbezüglich" die Rede. Viele Jugendliche bekämen keinen Zugang zur Jugendhilfe, der ihnen zustünde. Es bestehe aufgrund falscher Alterszuordnungen "eine erhebliche Gefahr der Kindeswohlgefährdung bei einer sehr großen Personengruppe". Man gehe von einer "hohen Dunkelziffer" aus.

Die Mitarbeiter der Inneren Mission berufen sich auf eigene Nachforschungen. An drei Tagen Ende Juni hätten sie stichprobenartig etwa 100 jugendlich aussehende Asylsuchende nach ihrem Gespräch in der Erstaufnahmestelle befragt. 32 gaben an, unter 18 Jahre alt zu sein. Aus dieser Gruppe sagten nur drei Personen, dass ihr Alter korrekt in den Papieren eingetragen worden sei. 29 berichteten, dass ein Alter entgegen ihren Angaben vermerkt worden sei und sie deshalb nun volljährig seien.

Samir aus Pakistan ist nach Befragungen der Mitarbeiter der Inneren Mission jedoch nicht der einzige, der unter Druck die falsche Altersangabe akzeptiert hat. Drei weitere Jugendliche hätte man in der Aufnahmestelle gesagt, dass sie ohne neues Alter in den Dokumenten "keine Unterkunft, Verpflegung oder Taschengeld bekämen", heißt es in dem internen Papier.

Die Regierung von Oberbayern will nun eine Untersuchung einleiten. "Hinweisen . . . auf konkrete Vorwürfe (hier zur Eintragung falscher Geburtsdaten und die Übernachtung eines Jugendlichen im Freien) gehen wir selbstverständlich nach und prüfen diese. Die Vorwürfe nehmen wir sehr ernst", heißt es in einer Stellungnahme. Die Festlegung des Alters erfolge in der Regel am Tag der Ankunft.

"Bestehen Zweifel, werden im Rahmen eines persönlichen Gesprächs Anhaltspunkte ermittelt, die eine altersmäßige Einordnung ermöglichen. Dabei werden auch andere Quellen zu Rate gezogen, etwa eigene Veröffentlichungen der Jugendlichen im Internet oder Flugtickets etc." Erst bei nicht ausräumbaren Zweifeln und nur mit Zustimmung des Jugendlichen werde eine medizinische Untersuchung vorgenommen. "Kommt man im Rahmen des beschriebenen Verfahrens zu keinem eindeutigen Ergebnis, ist zu Gunsten der Person vom geringstmöglichen Lebensalter auszugehen."

Sieben Ärzte, die kürzlich die Unterkunft in der Bayernkaserne besucht haben, zweifeln an diesen Angaben. Die Mediziner, fast alle spezialisiert auf die Behandlung von Kindern oder traumatisierten Patienten, hätten nach Gesprächen mit jungen Bewohnern konkrete Hinweise, dass "in großem Umfang" Jugendliche zu Erwachsenen erklärt werden, heißt es in ihrem Bericht, der der SZ ebenfalls vorliegt.

Offensichtlich lege in der Erstaufnahmestelle eine Verwaltungsbeamtin "nach kurzer Inaugenscheinnahme" das Alter ihrer Besucher nach eigenem Ermessen fest. Dies geißeln die sieben Ärzte als "eine unglaubliche und untragbare Behördenwillkür". In einem offenen Brief an Ministerpräsident Horst Seehofer prangern sie auch schwerwiegende Mängel in der Hygiene, eine unzureichende ärztliche Versorgung und eine Gefährdung durch Drogen und sexuellen Missbrauch in der Unterkunft an.

Die Kritik der Ärzte an den Verhältnissen in der Bayernkaserne weist die Regierung von Oberbayern zurück. Hinweise auf sexuelle Gewalt gebe es dort derzeit nicht. "Auch die Unterbringung im Übrigen ist angemessen", heißt es.

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SZ vom 04.07.2013/rus
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