Süddeutsche Zeitung

Sinti in Bayern:"Wer sich outet, hat Nachteile"

Geheimnisvoll, bildungsfern und potenziell kriminell: Oft bestimmen Klischees das Bild von Sinti. Aus Angst vor Vorbehalten geben sich viele nicht zu erkennen.

Von Dietrich Mittler

Plötzlich wird der innere Druck gar zu groß. Diese Sorge, wie es mit ihm und der Familie weitergeht. Theatralisch breitet Oswald Broschinski seine Arme aus. Wie ein Opernsänger auf der Bühne. Dann stimmt er an: "Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria, ho." Weiter singt er nicht. Das Lied ist ihm verhasst. Broschinski ist Sinto, Mitglied einer nationalen Minderheit in Deutschland, die über Jahrhunderte hinweg verfolgt, vertrieben und verachtet wurde. Und nun soll er die Siedlung verlassen, die für ihn und seine Lieben zur Heimat geworden ist. Das tut weh. Doch die Sanierung der Wohnsiedlung mit ihren wenigen Häusern würde weit mehr als eine Million Euro kosten. Und unmittelbar neben einer Bahnstrecke und einer Autobahn gelegen, ist sie nach heutigen Standards unzumutbar - auch wenn die Häuser dort so gepflegt und heimelig ausschauen. Bald ist Nürnbergs Sinti-Siedlung in der Uffenheimer Straße Geschichte.

"Bunte Zirkuswagen, geschmücktes Viergespann/ von Freiheitsdrang getrieben, so kamen sie stets an", so lautet ein Vers auf einem Poetenportal im Internet. Erich Schneeberger, der Vorsitzende des Landesverbands deutscher Sinti und Roma in Bayern, winkt ab. In der Mehrheitsgesellschaft werde noch immer dieses Bild von Sinti und Roma transportiert: Nomaden, wild, geheimnisvoll, bildungsfern und potenziell kriminell. "In Bayern leben derzeit um die 20 000 Sinti", sagt Schneeberger, allein in München seien es 10 000. Etliche Sinti wiederum hätten etwa in Deggendorf oder Ingolstadt ihre Heimat. "Oft wissen die Leute gar nicht, dass ihr Nachbar ein Sinto ist", sagt Schneeberger. Nicht auffallen, das stecke bei den meisten Sinti tief im Bewusstsein. Dies kennzeichne auch die eigene Familie, die er als "gutbürgerlich" beschreibt. Immer noch aber stoßen Sinti, wie Schneeberger aus eigener Erfahrung weiß, bei einigen Mitbürgern auf große Vorbehalte. Auch die aktuelle Kindergeld-Diskussion zeugt davon (Kasten).

Nicht wenige Sinti, so sagt der 67-Jährige, flüchteten sich - auf ihre dunkle Haut angesprochen - in die Ausrede, die Vorfahren stammten aus Spanien. Dann sei Ruhe. Manche Vermittler in Bayerns Job-Centern geben das sogar als Rat mit auf dem Weg, damit Sinti den gewünschten Job nicht nur bekommen, sondern auch behalten. "Das ist Realität", sagt Schneeberger. Als sich seine Nichte, stellvertretende Leiterin eines Kindergartens, als Sinteza zu erkennen gegeben habe, seien im Elternkreis solche Sätze gefallen: "Wir wollen doch nicht, dass unsere Kinder von einer Zigeunerin erzogen werden." Das Betriebsklima sei so unerträglich geworden, dass die Nichte kündigte.

"Wer sich outet, hat Nachteile", sagt Schneeberger. Die Schlagersängerin Marianne Rosenberg etwa habe sich auf Bitten des Vaters erst dann als Sinteza zu erkennen gegeben, als sie ganz oben auf der Karriereleiter stand. "Es hat ihr weh getan, ihre Sinti-Mentalität so lang verleugnen zu müssen, sagt Schneeberger. Broschinski käme das nie in den Sinn. "Wir sind hier in Deutschland geboren, aber unsere Kultur kann uns keiner nehmen! Ich bleibe das, was ich bin. Bis zu meinem Tod", sagt er.

Vor dem Haus gegenüber sitzt Ludwig Franz, Oswald Broschinskis Großonkel. Der 81-jährige hat in seinem Leben Furchtbares erlebt: Mit sieben Jahren kam er ins KZ Hohenbruch, das der Gestapo in Königsberg unterstand. "Wir haben als Kinder Steine geklopft", berichtet er, "und die Menschen, die nicht gesprungen sind, haben sie totgeschossen." Während sein Vater als Soldat der Wehrmacht fiel, "gingen meine Schwestern ins Gas", sagt er. In Bayern gibt es keine Sinti-Familie, die nicht Verwandte im KZ verloren hat.

Bald nach der Befreiung durch die Russen wurden Ludwig Franz und die ihm verbliebenen Verwandten wie die anderen Deutschen aus Ostpreußen verjagt. Auf Umwegen gelangten sie nach Nürnberg. Auf dem für Sinti vorgesehenen Stellplatz an der Uffenheimer Straße herrschte Not. "Wir waren neun Personen in einem kleinen Wohnwagen. Dann der Hunger! Wir haben ja nichts mehr gekriegt", sagt Franz. Während jüdische NS-Opfer in der Nachkriegszeit gut verpflegt wurden, fehlte es den Sinti an allem. "Die Amerikaner haben sich nicht mehr um uns gekümmert", sagt er. Später entschieden oft rehabilitierte NS-Schreibtischtäter über die Opferentschädigung. Die fiel für Sinti empörend gering aus, wenn sie überhaupt etwas bekamen.

Anfang der 80er Jahre wurden dann an der Uffenheimer Straße für Sinti-Familien Häuser gebaut. Dort wuchsen auch die Kinder von Ludwig Franz auf. Aber gefragt, wann er in seinem Leben wirklich glücklich war, sagt er: "Wie hier noch die Wohnwagen standen. Wie alle noch gelebt haben, die restlichen Geschwister, die Verwandtschaft." Er setzt nach: "Jetzt können wir nur noch an sie denken. Alle tot, alle weg." Nach diesen Worten steht Franz auf, geht. "Familie ist für uns Sinti alles", sagt sein künftiger Schwiegersohn Stefan Steinbach. Um zu erklären, warum für den alten Herrn das Gespräch nun zu Ende ist.

Steinbach hat Eleonore, die 41-jährige Tochter von Ludwig Franz, über ein Chatforum kennengelernt. "So irgendwie voll die Liebesgeschichte", sagt er. Bald will er die Wohnung in seiner niedersächsischen Heimatstadt Hildesheim aufgeben, nach Nürnberg ziehen. Seinen Lebensunterhalt verdient er als fahrender Händler. Den Lehrberuf als Koch musste er - obwohl stellvertretender Küchenchef in einem Hotel - aufgeben: Starkes Rheuma ließ ihm keine andere Wahl. Aber er sagt: "Ich bin deutscher Sinto, habe beide Seiten in mir, also auch diesen Freiheitsdrang." Auch Broschinski schwärmt von jener Freiheit, als er in Kindertagen im Wohnwagen mit den Großen unterwegs war, wenn die Handel trieben. Er selbst hat lange vom Schrotteln gelebt. Doch wie bei vielen anderen Sinti auch - etwa jenen in Würzburg, Ansbach oder Straubing - ist das angesichts strenger Auflagen nicht mehr rentabel. Hinzu kamen schwere Krankheiten. Nun lebt der 63-Jährige von Hartz IV. In der Umgebung hat er noch einen Wohnwagen untergestellt, damit verbindet er Freiheit.

Verwechslungen

In die Diskussion über vermeintlichen Missbrauch der Sozialsysteme (Kindergeld) hat sich nun auch der Fürther OB Thomas Jung eingeschaltet. Der SPD-Politiker klagte in einem BR-Fernsehbeitrag über "gezielte Armutszuwanderung zur Ausbeutung deutscher Sozialsysteme", den Missbrauch von Kindergeld und lärmende "Sinti- und Romakinder". Wie viele andere nennt er Sinti und Roma in einem Atemzug. Sinti sind in Deutschland bereits seit mehr als 600 Jahren beheimatet. Als nationale Minderheit treten sie im Alltagsleben kaum in Erscheinung. Im Gegenteil, meist streben sie wegen der Verfolgung im Dritten Reich ein unauffälliges Leben an - ohne mit tradierten Regeln zu brechen, die sich stark von jenen der Roma unterscheiden. Viele hier lebende Roma stammen aus Osteuropa. Sie kommen mit der Hoffnung auf Arbeit. Oft müssen sie schlecht bezahlte Knochenjobs in Kauf nehmen, die sonst keiner machen will. dm

"Der Sinti-Mythos von Freiheit" - Werner Stricker, seit fast 40 Jahren Sozialarbeiter in der Uffenheimer Straße, schüttelt den Kopf. "Es ist bedauerlich zu sehen, aber auch die Sinti können sich gegen die Veränderungen in der Gesellschaft nicht wehren", sagt er. Es sei zu beobachten, "dass nun sehr langsam auch der Verfall der Großfamilien beginnt" - für ihn eine unvermeidliche Folge moderner Lebensverhältnisse. In Vielem aber, so betont er, erinnere ihn die deutschlandweite Sinti-Community an Bayerns Dorfgemeinschaften, in denen heute noch enormer Zusammenhalt, aber auch strenge Regeln und eine rigide Sozialkontrolle herrschen.

Misstrauen gründet in der NS-Zeit

Sinti geben sowohl über ihre Regeln als auch über ihre Muttersprache, das Romanes, nur spärlich Auskunft. Auch Stricker nicht. Viele Sinti würden das als Verrat empfinden. Die Wurzeln des Misstrauens liegen einmal mehr in der NS-Zeit. Bei den Schneebergers ist da der Besuch einer rothaarigen Dame überliefert. Da sie perfekt Romanes sprach, wurde ihr Vertrauen geschenkt. Sie schrieb fleißig Namen von Familienmitgliedern auf. "Dann waren die im Lager", sagt Erich Schneeberger.

Er gehört wie der Zentralratsvorsitzende Romani Rose aus Heidelberg zu den Wortführern, die Sinti und Roma politisch nach außen vertreten. Innerhalb der Sinti-Gemeinschaft sind sie geachtet, aber das Sagen haben letztlich die "Rechtsprecher" als Hüter der Sinti-Mentalität. Zu der gehört es, Respekt vor den Alten zu zeigen. Oder auch, kein Pferdefleisch zu essen, ja nicht einmal einen Laden oder ein Lokal zu betreten, in dem das angeboten wird. Ein solcher Laden ist tabu - oder wie die Sinti sagen, er ist "palećido", "zurückgestellt".

Wird ein Sinto von anderen Sinti dabei beobachtet, dass er sich bewusst darüber hinwegsetzt, ist auch er palećido und wird - meist zeitlich befristet - aus der Community ausgestoßen. Gleiches gilt für jene, die bewusst mit Ärzten oder Pflegekräften an einem Tisch essen und trinken. Weil diese Berufsgruppen willentlich mit Fremdblut in Berührung kommen. Arztbesuche sind erlaubt, denn niemand wird ja absichtlich krank. Bei ernsten Problemen treffen Rechtsprecher aus ganz Deutschland zum "Zillo" zusammen. Die härteste Strafe ist, als "prasto", als "ehrlos" geächtet zu werden. Sich zu prostituieren etwa gilt in der Sinti-Community als absolutes Tabu.

Dennoch, die Sinti-Gemeinschaft ist im Umbruch. Es wächst neues Selbstbewusstsein. In Straubing etwa, wo sich nun die Sinteza Nicole Trollmann als Mediatorin im Rahmen des Projekts "Kooperation Schule - Sinti" dafür einsetzt, dass auch Kinder aus sozial schwachen Familien regelmäßig den Unterricht besuchen. Oder Renaldi Schneeberger in Osterhofen. Er hat es zu etwas gebracht, sieht keinen Grund, sich zu verstecken. Über ihn erschien ein großer Artikel mit der Überschrift "I bin der Renaldi und do bin i dahoam!" Oswald Broschinski indes steht noch unter Strom. Bislang ist ungewiss, welche Wohnung er und seine Familie bekommen werden. Aber er ist zuversichtlich: "Die von der Stadt haben gesagt: Steht ihr zu uns, stehen wir zu euch." Unter Sinti gilt das Wort.

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SZ vom 11.08.2018/baso
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