Missbrauch im Maristen-Orden:Freispruch für Frater, der Schüler vergewaltigt haben soll

Lesezeit: 3 Min.

Im Maristen-Internat soll es zu Übergriffen auf Schüler gekommen sein. (Foto: Imago)

Der Richter zeichnet ein düsteres Bild vom Angeklagten, der zweifelsfrei Buben missbraucht habe. Vom konkreten Vorwurf der Vergewaltigung spricht er ihn aber frei.

Von Florian Fuchs, Memmingen

Der Angeklagte hat den gesamten Prozess über kein Wort gesagt, er sagt auch nichts, als der Richter der fünften Strafkammer als Jugendkammer am Landgericht Memmingen im Berufungsverfahren das Urteil des Amtsgerichts bestätigt. Nur kurz stützt er sich mit den Händen auf den Tisch vor sich. Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung eines Schülers, damals, im Jahr 2003, als der Frater im Internat der Maristen in Mindelheim tätig war. Gleich darauf wieder lässt der Angeklagte die Arme hängen, die Mimik ausdruckslos, als der Richter sogleich betont, dass sich aus zahlreichen Schilderungen von Zeugen eben doch Fehlverhalten des Fraters im Internat ableiten lässt – aber nicht zwingend in diesem Fall.

Später in der Urteilsbegründung wird der Richter konkreter: Es sei eine zweifelsfreie Tatsache, dass der Angeklagte damals Schüler missbraucht habe. Es sei belegt, dass er homosexuelles Interesse an Schülern gehabt habe. Es gibt ja auch frühere Urteile mit Geständnissen. Von grenzüberschreitendem Verhalten hätten mehrere Zeugen erzählt, seien es sogenannte Eskimoküsse oder Berichte von Schülern, die sich der Frater abends öfters in Unterhose ins Büro hat kommen lassen. „Das lässt aber nicht den Schluss zu“, sagt der Richter, „dass auch der Kläger eines der Opfer war.“

Das Leid der Familie des Klägers und damaligen Schülers sei im Verlauf des Prozesses drastisch geschildert worden, sagte der Richter. Der Schüler war sehr religiös, seine Eltern hatte er überredet, dass er ins Internat des Ordens der Maristen durfte. Nach etwa einem Jahr mussten seine Eltern den Jugendlichen wieder vom Internat nehmen und in eine psychiatrische Klinik bringen: bipolare Störung, so lautet die Diagnose heute. Erst nach etwa 15 Jahren bricht der Kläger zusammen und offenbart sich seiner Mutter: Vom Frater sei er damals als Schüler mehrfach vergewaltigt worden.

Bereits vor mehr als 15 Jahren hatte den Angeklagten ein Gericht wegen sexuellen Missbrauchs von Schülern zu Bewährungsstrafen verurteilt. Im vergangenen Jahr erhielt er dann erneut vom Amtsgericht Memmingen eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, wegen sexuellen Missbrauchs und sexueller Nötigung von Kindern. Der 64-Jährige gestand die Vorwürfe im Prozess. Die Vergewaltigung, die ebenfalls im Raum stand, stritt er jedoch ab. Das Amtsgericht sprach ihn aus Mangel an Beweisen frei, wogegen Nebenklage und Staatsanwaltschaft in Berufung gingen.

Maßgeblich für den Freispruch am Amtsgericht waren die Aussagen einer Gutachterin, die nahelegten, dass es sich bei den Erzählungen des mutmaßlichen Opfers um sogenannte Scheinerinnerungen handle. Auch vor dem Landgericht blieb die Gutachterin bei ihren Aussagen, was Staatsanwalt und Nebenklagevertreter Detlef Kröger scharf kritisierten: Sie warfen ihr unter anderem vor, nur eine Untersuchungsmethode verwendet zu haben, die von vornherein unterstelle, dass die Aussagen des Angeklagten nicht der Realität entsprächen.

Nebenklagevertreter kündigt noch im Gerichtssaal an, Revision einzulegen

Die fünfte Strafkammer des Landgerichts folgte dieser Argumentation nicht und führte auch andere Argumente zugunsten des Angeklagten auf: Es sei nicht zu erklären, warum der Kläger erst 15 Jahre nach den vorgeworfenen Taten von dem Missbrauch erzählt habe. Zeugen hätten viel über das Fehlverhalten des Fraters berichtet, der das Internat zeitweise leitete. Sie hätten aber nichts konkret zu den Vergewaltigungsvorwürfen des Klägers sagen können.

Die Maristen haben den Frater inzwischen aus ihrem Orden ausgeschlossen. Der Orden lässt sich vom „Ausschuss für unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bereich von Ordensgemeinschaften“ beraten, wie eine Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in seinen Einrichtungen in Deutschland stattfinden kann. Die Maristen, heißt es auf ihrer Homepage, wollen eine unabhängige Kommission zur Anerkennung des Leids einrichten.

Der Verein „Wir sind Viele!“, in dem sich Betroffene und ehemalige Schüler des Maristeninternats zusammengeschlossen haben, wirft den Maristen jedoch gerade vor, 20 Jahre „nur verschwiegen und vertuscht“ zu haben, wie einer der Vorsitzenden, Christian Fröhler, nach dem Richterspruch sagte. „Das Urteil ist für viele Betroffene und den Nebenkläger ein schwerer Schlag.“ Es gehe jetzt um einen neuen Abschnitt der Aufarbeitung, betonte sein Kollege Andreas Ernstberger. Bislang habe der Täter im Fokus gestanden. „Jetzt wollen wir fragen, welche Verantwortung der Orden, die Kirche und ehemalige Kolleginnen und Kollegen des Fraters tragen.“

Das heißt aber nicht, dass der Fall juristisch abgeschlossen ist: Nebenklagevertreter Kröger kündigte noch im Gerichtssaal an, Revision einzulegen. Die bayerische Justiz, sagte er, habe sich als unfähig erwiesen, den Missbrauch in Mindelheim aufzuarbeiten und einer angemessenen Bestrafung zuzuführen. „Wir haben eine Liste von 70 Kindern im Umfeld des Internats, die missbraucht worden sind. Dass die Opfer heute zum zweiten Mal bestraft wurden, tut mir in der Seele weh.“

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusVorwürfe gegen JVA Gablingen
:„Sein Tod fühlt sich weniger an wie Suizid, sondern wie Mord“

Ein junger Mann mit paranoider Schizophrenie gerät wegen eines ungültigen Fahrscheins in Panik und zerstört ein Zugfenster. Wochenlang wird er in der JVA Gablingen festgehalten. Am Ende bringt er sich um. Warum hat ihm niemand geholfen?

Text: Thomas Balbierer, Illustration: Stefan Dimitrov

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: