Memmingen:Im Allgäu liegt ein Ursprung der Menschenrechte

12 Artikel vom Bauernkrieg, 1525, Memmingen

Das Fanal von Memmingen: Im Frühjahr erscheint ein Buch, in dem die zwölf Artikel von 1525 in modernes Deutsch übersetzt wurden

(Foto: Stadtarchiv Memmingen)

Im März 1525 wurde das Fanal von Memmingen verfasst - ein Manifest, das im Bauernkrieg revolutionäre Sprengkraft entwickelte.

Von Julia Huber

Hier in diesem Saal muss es gewesen sein. Die dunkelbraune Holzdecke mit den fein geschnitzten Verzierungen erstreckt sich noch heute über den Raum im zweiten Stock des Memminger Altstadthauses. Sie hing schon damals über den Köpfen der Männer, die sich im März 1525 zu einem historischen Treffen versammelten: 50 Bauern vom Bodensee, aus Oberschwaben und dem Oberallgäu, die in Memmingen zusammenkamen, weil sie aufbegehrten.

Gemeinsam schmiedeten sie Pläne für den Aufstand, ja, für die Revolution. Hier sollen sie sich auf das Manifest mit zwölf Forderungen geeinigt haben, das noch heute als erste Aufzeichnung von Menschen- und Freiheitsrechten gilt. Zumindest besagt es so die Überlieferung, auf die Memmingen so stolz ist, die aber nur wenige Menschen kennen. Das soll sich ändern: "Wir wollen erreichen, dass die Zwölf Artikel bekannter werden", sagt der Memminger Stadtarchivar Christoph Engelhard.

Das Stadtarchiv bewahrt eines der Originaldokumente auf, eine gedruckte Streitschrift aus dem Jahr 1525, die damals in einer Auflage von 28 000 Stück verbreitet wurde. Verschnörkelte Lettern auf gelblichem Papier. Filigrane Verzierungen und Flecken, die fünf Jahrhunderte mit sich gebracht haben. Um das Dokument herum sitzen drei Experten und diskutieren, wer der Autor des Pamphlets war, das eine ähnliche Sprengkraft entwickelte wie 350 Jahre später die Schriften von Marx und Engels.

Neben Engelhard sind es Hans-Wolfgang Bayer, der Leiter des Memminger Kulturamts, und Heide Ruszat-Ewig, die derzeit an einem Buch über die Zwölf Artikel schreibt. Diese stellten so ziemlich alles infrage, was das Leben eines Bauern im 16. Jahrhundert ausmachte:

Die Leibeigenschaft sollte aufgehoben werden. Jagd und Fischerei sollten frei sein. Jede Gemeinde sollte das Recht haben, ihren Pfarrer zu wählen oder abzusetzen. Und Strafen sollten ausschließlich von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit verhängt werden, und nicht mehr aus Willkür der Grundherren - ein Sammlung von ungeheuerlichen Provokationen für die damalige Zeit.

Bilder zu dem Memmingen-Serienthema

Der Memminger Stadtarchivar Christoph Engelhard zeigt die Lage des Kramer-Hauses.

(Foto: Julia Huber)

Nicht ohne Grund machte die DDR sich den darauf folgenden Bauernkrieg als Gründungsmythos zu eigen. Das Proletariat bäumt sich auf - noch dazu mit intellektuellen Höchstleistungen. Eine romantische Vorstellung, doch wer waren die geistigen Urheber?

Eine Autorenzeile haben die Zwölf Artikel nicht. Kulturamtsleiter Bayer formuliert es lieber allgemein: "Die Zwölf Artikel entstanden am Ende der Bauernversammlung." Wer genau sie geschrieben habe, wisse man nicht. Die Autorin Ruszat-Ewig gibt sich damit nicht zufrieden. "Die meisten Bauern konnten zu dieser Zeit doch gar nicht schreiben", sagt sie. Für ihr Buch, das im Frühjahr erscheinen soll, hat sie sich durch Archivmaterialien, Briefe und Urkunden gewühlt - und neue Beweisstücke gefunden. Sie ist überzeugt, dass nicht die Bauern die Artikel geschrieben haben, sondern ein Mann namens Sebastian Lotzer.

"Die Bauernartikel waren ihrer Zeit voraus"

Lotzer war ein junger Intellektueller, der neben seinen eigenen Flugschriften auch Briefe im Auftrag der Bauern verfasste. Auch an der Versammlung im März 1525 soll er teilgenommen haben. Bayer versucht noch einmal, die legendenhafte Erzählung von den Bauern mit den neuen Erkenntnissen unter einen Hut zu bringen. Er fragt: "Könnte es sein, dass Lotzer am Ende der Bauernversammlung gesagt hat: ,So, liebe Bauern, jetzt lese ich euch mal meine Zwölf Artikel vor. Seid ihr damit einverstanden?"

Ruszat-Ewig sieht skeptisch aus. Dass es wie ein Ratespiel anmutet, wenn die beiden über die Zwölf Artikel diskutieren, hängt auch damit zusammen, dass die Aufstände scheiterten - und damit auch die schriftliche und mündliche Erinnerung zum großen Teil verloren ging. Aus der Zeit sind nur wenige verlässliche Überlieferungen erhalten. Engelhard sagt: "Die Unterlegenen schreiben in der Regel nicht die Geschichte."

Ihr Aufbegehren endete für die Bauern mit einer Katastrophe. Die Zwölf Artikel sollten eigentlich als Grundlage für Verhandlungen dienen. Doch aufgebrachte Bauern brannten im Furor Burgen und Schlösser reicher Herren nieder. Der gewaltsame Aufstand griff wie ein Lauffeuer auf andere Teile des Landes über.

Doch die Feudalherren, die sich im sogenannten Schwäbischen Bund organisierten, schlugen die Erhebung blutig nieder. Was aus den Teilnehmern der Memminger Versammlung wurde, darüber kann auch Engelhard nur spekulieren. "Die Bauern sind am Ende wohl in irgendwelchen Massengräbern verscharrt worden", vermutet er. Die Menschenwürde, wie in den Bauernartikeln gefordert, wurde ihnen jedenfalls nicht zugestanden. Sebastian Lotzer floh in die Schweiz, wo sich seine Spur verliert.

"Die Bauernartikel waren ihrer Zeit voraus", sagt Kulturamtsleiter Bayer. Es sollten noch mehr als 400 Jahre vergehen, bis die Vereinten Nationen 1948 die Allgemeinen Menschenrechte deklarierten. Die Zwölf Artikel von Memmingen waren ein früher Vorläufer - egal, ob sie nun von Lotzer oder den Bauern oder allen gemeinsam verfasst wurden.

Deshalb sind sie heute noch ein historisches Monument und sinnstiftend für Memmingen: Seit 2000 wird hier alle vier Jahre der "Freiheitspreis 1525" verliehen. Zuletzt ging der Preis an den österreichischen Bischof Erwin Kräutler. Er kämpft in Brasilien gegen ein großes Bauprojekt, durch das der indigenen Bevölkerung große Flächen ihres Landes genommen würden. Ganz im Sinne von Lotzer und seinen Gefährten.

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