Mit Sibirien ist der Volksmund ja ganz rasch bei der Sache: Wertheim? Badisch Sibirien! Hochfranken? Bayerisch Sibirien! Ob das in letzterem Fall am Böhmwind, diesem fiesen Fallwind, im nördlichen Oberfranken liegt oder daran, dass der Volksmund nun mal alles irgendwie Nördliche mit der Einfallslosigkeit „Sibirien“ befleckt – ganz egal.
Ärgerlich aber ist es, sehr ärgerlich sogar. Rein faktisch, rein prähistorisch nämlich wäre für Hochfranken der Begriff „Bayerisch Ur-Afrika“ ein deutlich passenderer. Und wer das nicht glauben mag, der kann sich gerne mal mit Roland Eichhorn in Verbindung setzen. Eichhorn verantwortet den Geologischen Dienst am Landesamt für Umwelt und war mehrfach schon in den Weilern um Presseck zu Gast, die übrigens, wie das in Oberfranken so üblich ist, fabelhaft lyrische Namen tragen: Trottenreuth, Premeusel, Schlopp. Das ist mal eine andere kreative Liga als: Sibirien.
Und was betritt man da bei Wildenstein, gleich um die Ecke von Trottenreuth, Premeusel und Schlopp? Einen ehemaligen Teil von Marokko. Genauer gesagt eine Gesteinsscholle, die mal das Meer vor der Küste Ur-Afrikas ihre Heimat nannte, sich später – beim unvermeidlichen Gebirgsbilden – weithin unbemerkt aus dem Staub machte, sich in all den Jahren nicht verbiegen und schon gar nicht hat zermalmen lassen, sondern im Gegenteil viel Geschick darauf verwendete, sich an die Oberfläche heben zu lassen. Und zwar in Oberfranken. Von wegen: Sibirien.
Der Beginn dieser Geschichte dürfte kaum 500 Millionen Jahre her sein. Und dafür hat sich dieses Stück fränkisches Vor-Marokko fabelhaft gehalten, um nicht zu sagen: nahezu unversehrt. So unversehrt, dass der Würzburger Paläontologie-Professor Gerd Geyer just auf dieser Scholle versteinerte Dreilapperkrebse ausfindig gemacht hat. Und nicht nur ein paar wenige, sondern gleich anderthalbtausend – elf davon weltweit unbekannt. Und um das mal angemessen herauszuarbeiten: keine einzige davon mit sibirischen Wurzeln.
Auch Fossilien wollen Namen, zwei der elf Neuen hat der Professor deshalb – nach Wilhelm Busch – auf die Namen „Prioscutarius max“ und „Prioscutarius moritz“ getauft. Warum? Weil sie aus einem Stein sind, der Professor die beiden Bruchstücke erst hat zusammenschieben müssen und ihn das an ein Brüderpaar aus alten Zeiten erinnerte.
„Abstract“ nennt die Wissenschaft eine komprimierte Zusammenfassung eines längeren Textes, Abstract nun also: Die Verwandten von Max und Moritz stammen ursprünglich aus dem Meer vor Marokko, haben sich nach allerlei Irrungen und Wirrungen unverletzt nach Norden durchgeschlagen und sind nun im Freistaat Bayern angetroffen worden. Die beiden Brüder sind Oberfranken. Keine Wurzeln haben sie in Sibirien.