Süddeutsche Zeitung

Augsburg:Eine Schule, die die Grenzen der Fächer überwindet

  • An der Franz-von-Assisi-Grundschule in Augsburg lernen die Kinder seit Jahrzehnten nach dem Marchtaler-Plan.
  • Kern dieses pädagogischen Konzepts ist der Vernetzte Unterricht: Die Inhalte verschiedener Fächer werden anhand von Themenschwerpunkten gelernt.
  • Die Kinder müssen von der ersten Klasse an selbständig arbeiten, sich Themen erschließen und präsentieren.

Von Anna Günther, Augsburg

Charlotte und Luise beugen ihre Köpfe konzentriert über ein Blatt und malen. Mars, Venus, Erde, Mond. Die Lehrerin hat den Zweitklässlern in der Augsburger Franz-von-Assisi-Grundschule aufgetragen, ein Referat vorzubereiten. Die Zwillinge wählten das Thema Weltraum. "Luise mag den Weltraum", sagt Charlotte, 8. Ihr sind Vögel lieber, aber sie hilft mit und entdeckte bei der Recherche immerhin einen Lieblingsplaneten: Jupiter. Und Luise? Charlotte stupst die Zwillingsschwester an, "sag's doch!" "Uranus", sagt Luise, blickt schüchtern erst zur Schwester und dann zurück aufs Blatt. Am Ende des Flurs üben Eva und Sarah aus der dritten Klasse mit Perlen multiplizieren. Eine Etage tiefer laufen Kinder durch eine Installation aus Plastik. Mit dem Projekt der Neuntklässler sollen die Jüngsten die Vermüllung der Weltmeere nachvollziehen. Eine Schule außer Rand und Band?

In der Assisischule heißt das "Freie Stillarbeit". Die Lautstärke geht an diesem Tag kaum über Gemurmel hinaus. Die Lehrer und einige Mütter sind da, halten sich aber im Hintergrund. Jeder Tag beginnt mit zwei Stunden Stillarbeit, in denen die Schüler selbständig lernen. Was sie zu tun haben, wissen die Kinder genau: Jedes hat sein Pensum, an der Tafel stehen zudem Aufgaben, die in der aktuellen Woche, in zwei und in sechs bis acht Wochen fertig sein müssen. Dieses Prinzip zieht sich durch bis zur zehnten Klasse der Mittelschule.

Mädchen und Buben lernen nach dem Marchtaler Plan, einem Bildungskonzept, das vor 35 Jahren an Grund- und Mittelschulen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart eingeführt wurde. Die Assisischule wurde 1988 als erste Marchtaler-Schule in Bayern gegründet, mittlerweile gibt es zehn Volksschulen. "Wir nutzen unsere Freiheiten als Privatschule aus", sagt Rektorin Birgit Conrady. Drei Viertel der 550 Schüler müssen an der Schule der Diözese Augsburg katholisch sein, davon hängen staatliche Zuschüsse ab.

Die Assisischule ist staatlich anerkannt, der Lehrplan Plus gilt wie überall in Bayern. Allerdings haben Lehrer erarbeitet, wie sie den Lehrplan umsetzen und dabei Fächergrenzen sprengen. Der Vernetzte Unterricht (VU) ist Kern des Marchtaler Plans. Schüler lernen neben Mathe, Sprachen, Sport oder Hauswirtschaft, die klassisch unterrichtet werden, im VU die Inhalte verschiedener Fächer anhand von Themenschwerpunkten. Der Marchtaler Plan ist zudem christlich geprägt. Das Konzept kommt aber offenbar an, trotz 120 Euro Schulgeld im Monat. Conrady berichtet von deutlich mehr Anmeldungen als Plätzen. Nur die Zahl der Katholiken zusammenzubekommen, werde in der zunehmend säkularen Gesellschaft schwieriger. "Manche Eltern lassen ihre Kinder sogar noch schnell taufen, damit sie hier angenommen werden", sagt sie.

Conrady suchte vor 25 Jahren eine Grundschule für ihren Sohn, eine Erzieherin empfahl die Assisischule. Das Kind war so zufrieden, dass Conrady als Lehrerin an die Schule kam. Seit neun Jahren ist sie die Chefin und vom pädagogischen Konzept nach wie vor überzeugt - auch wenn es für Lehrer aufwendiger ist als klassischer Unterricht. Zwar sind Zweitkräfte in der Grundschule Standard, aber die Lehrer müssen deutlich mehr korrigieren: Was in der Stillarbeit entsteht, muss der Lehrer kontrollieren. Jeden Tag. Die Kinder führen Protokoll. Haben Schüler Schwächen, liegen am nächsten Morgen Zusatzaufgaben auf ihrem Platz. "Die Kinder kommen an und fangen mit der Stillarbeit an", sagt Conrady. Einen Gong gibt es nicht. Der störe nur die Konzentration. Lehrer können sich so intensiver um die Schüler kümmern, die Hilfe brauchen.

Schulbücher gibt es nicht

Die Kinder lernen schon in der ersten Klasse, selbständig zu arbeiten, sich Themen zu erschließen und zu präsentieren. Schulbücher gibt es nicht. Lernmaterialien erstellen Mädchen und Buben im Vernetzten Unterricht selbst. Am Ende des Schuljahres hat jedes Kind sechs bis acht - vom Lehrer kontrollierte - Themenbücher. Teilweise gedruckt von Schülern in der eigenen Druckerei. "Dadurch üben sie Lesen, schon die Erstklässler setzen als erstes ihren Namen", sagt Conrady.

Nach der Stillarbeit bespricht Lehrerin Uta Berger an diesem Morgen mit ihrer dritten Klasse, wie Wein und Brot entstehen. Die Kinder überlegen in Gruppen und tragen dann ihr Ergebnis vor. "Wenn das Getreide gewachsen ist, wird es mit dem Traktor abgeschnitten", sagt ein Mädchen und legt ihre Karte in den Kreis. "Das heißt Mähdrescher", ruft ihr Sitznachbar und erklärt, wie die Maschine funktioniert. "Jesus Christus - Brot des Lebens" heißt diese VU-Einheit, binnen sechs Wochen lernen die Kinder Hintergründe der Erstkommunion kennen, beschäftigen sich neben biblischen Geschichten auch mit Getreide und Wein, den Berufen Müller und Bäcker, backen Brot, besprechen Tischregeln, Hunger in der Welt, Bräuche rund ums Brot und besuchen die Augsburger Synagoge zum Pessachfest. "Experten" wie etwa den Bäcker einzuladen, gehört zum Konzept.

Dieses Grundprinzip des fächerübergreifenden, projektorientierten Lernens könnte auch an staatlichen Gymnasien einziehen. Jedenfalls war mehr Zeit für diese und andere Methoden eine Begründung der CSU für die Wiedereinführung der 11. Klasse und die Rückkehr zum G 9. Noch ringen Lehrer, Eltern, Schüler und Ministerium um das Konzept der Oberstufe. Zwar ist vernetzter Unterricht an Volksschulen mit einem Lehrer, der viele Fächer unterrichtet, einfacher umzusetzen als an Gymnasien mit Fachunterricht. Aber längst gibt es außerhalb Bayerns Gymnasien, die den Marchtaler Plan nutzen. Im Freistaat sind drei christliche Realschulen umgestiegen. Auch dort gilt das Fachlehrerprinzip, über das sich Realschul- und Gymnasiallehrer oft definieren - und sich so von Volksschulkollegen abgrenzen.

Der Staat könnte aus den Erfahrungen der Privatschulen lernen: Die Maria-Ward-Realschule Schrobenhausen führte den Marchtaler Plan vor sechs Jahren ein; die erste Generation schreibt bald die Abschlussprüfung. Konrektor Frank Puschner übersetzte mit motivierten Kollegen den Lehrplan in Geschichte, Religion, Geografie und Biologie in thematische Einheiten. "Das war eine Heidenarbeit", sagt er. In der Regel ist ein Fach pro Einheit Schwerpunkt, die anderen wirken mit hinein. Auch Puschner unterrichtet nun Inhalte, die er nicht studiert hat. Das erfordere ein Umdenken aber bringe auch Arbeitserleichterung, betont Puschner: Im Team könne man gemeinsam arbeiten und sich abwechseln.

Vom Blick des Fachfremden auf das Wesentliche eines Themas profitierten die Schüler. Selbst seine Fächer Mathe und Religion unterrichte er nun praxisorientierter, sagt er. Die ganze Schule sei offener geworden, findet Direktorin Petra Schiele. Die Mädchen im Ganztag lernen mit dem Marchtaler Plan, die Halbtags-Schülerinnen klassisch. Der Unterschied lasse sich zwar nicht an Noten festmachen, aber die Marchtaler-Mädchen seien kreativer und arbeiteten deutlich selbständiger.

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SZ vom 30.03.2019/vewo
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