Am 24. Juni 1982 ist die im Landkreis Rottal-Inn gelegene Ortschaft Malgersdorf nur knapp einer Katastrophe entgangen. Am frühen Vormittag hatte sich ein Starfighter am Rande der Siedlung in einen Acker gebohrt, die Umgebung wurde von einer Explosion erschüttert. Augenzeugen schilderten, die Feuersäule sei so hoch wie der Kirchturm gewesen. Der Pilot hätte sich wohl mit dem Schleudersitz retten können, aber dann wäre der Starfighter mitten in den Ort gekracht. Stattdessen zog er das Flugzeug in letzter Sekunde hoch. Auf einer Gedenktafel an der Kirchenmauer steht geschrieben: "Er gab sein Leben für unsere Freiheit."
Die Chronik der Gemeinde Malgersdorf, die gut 1250 Einwohner zählt, ist reich an Unglücksfällen, Hochwassern und Kriegsschlachten. Immerhin gibt es einen Kindergarten, eine Schule und reichlich Geschäfte, "sonst wär der Ort ja tot", sagt der Zweite Bürgermeister Ludwig Brunner, der nebenbei auch noch die örtliche Blaskapelle und die Kantorei leitet sowie als Vorstand der Freiwilligen Feuerwehr fungiert. Wenn man sich mit diesem sehr geerdet wirkenden Mann unterhält, erfährt man Dinge, die man in dem unscheinbaren Ort Malgersdorf nicht unbedingt vermutet hätte. Etwa, dass die Trauners, enge Verwandte des einstigen Superministers Maximilian von Montgelas, jenes Schloss besaßen, das sich direkt gegenüber der Pfarrkirche St. Stephanus erhebt. Oder dass in Malgersdorf Vorfahren des DDR-Spions Günther Guillaume lebten, wegen dem Willy Brandt 1974 vom Amt des Bundeskanzlers zurücktreten musste.
Damals, Mitte der 70er-Jahre, reifte ein Plan heran, der Malgersdorf eine weitere Kuriosität bescheren sollte, wie es sie wohl kein zweites Mal mehr gibt, wie Ludwig Brunner stolz erklärt. Ein Gast dürfe Malgersdorf keinesfalls verlassen, sagt er, ohne die Kirchenorgel besichtigt zu haben, ein kleines Weltwunder, an dem herrliche Geschichten haften.
Manche wissen noch, dass die Sonntage des Kirchenjahrs jeweils eigene Namen tragen, sie heißen beispielsweise Quasimodogeniti, Jubilate und Exaudi. In Malgersdorf aber gab es in den 1970er-Jahren zusätzlich sogenannte Scheinwerfersonntage, wie Brunner lächelnd erklärt. Der Name geht auf den damaligen Pfarrer Walter Striedl (1926-1999) zurück, den man rückblickend ruhigen Gewissens als orgelnarrisch bezeichnen darf.
An den besagten Scheinwerfersonntagen drehte sich alles um das liebe Geld. "Die Gläubigen sollten halt statt Münzen lieber Scheine in den Klingelbeutel werfen", sagt Brunner, der damals noch Oberministrant war. Pfarrer Striedl träumte von einer neuen Orgel, die jedoch ein Vermögen kostete. "Immerhin kamen an einem Scheinwerfersonntag zwischen 20 000 und 30 000 Mark zusammen", erinnert sich Brunner. Die Summe, die am Ende im Beutel lag, legte der Pfarrer dann aus seiner Privatschatulle noch zusätzlich drauf. Auf diese Weise kamen mehrere Hunderttausend Mark zusammen, und Striedl konnte das Mammutprojekt in den Jahren 1976/77 ohne Zuschüsse realisieren.
"Heute würde diese Orgel niemand mehr genehmigen."
Heute, so schätzt Brunner, würde diese bei Friedrich Meier in Plattling gefertigte Orgel wohl mehr als eine Million Euro verschlingen. Sie ist zwar nicht so groß wie die Passauer Domorgel, aber man wird sich schwer tun, irgendwo auf der Welt ein ähnlich voluminöses Instrument in einer Dorfkirche zu finden. "Das Konzept der Meier-Orgel ist in Deutschland einzigartig und stellt ein absolutes Kuriosum in der Orgelwelt dar", resümiert die Wiki-Orgeldatenbank "Organ index". Blickt man sich in der Kirche um, so sieht man an jeder Wand Pfeifen, über dem Spieltisch thront das Chorwerk, auf der Brüstung springen die eingehausten Spanischen Trompeten ins Auge, und das Hauptwerk der Orgel prangt an der Nordwand der Kirche.
"Heute würde diese Orgel niemand mehr genehmigen", sagt Brunner. Sie sei viel zu groß und habe zu viele Klangkronen. Aber Striedl ließ sich nicht beirren. Als die Seitenwand durchgebrochen wurde, um Platz für die Orgel zu schaffen, standen plötzlich Exzellenzen aus der Diözese sowie vom Denkmalamt in der Kirche. "Sofort einstellen!", forderten die strengen Männer vom Pfarrer. Striedl habe nur gesagt: "Meine Herren, da ist die Tür, da gehen Sie jetzt bitte wieder hinaus!"
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Die Stimmung war gereizt, immer wieder wurde der Pfarrer ermahnt, den Bau einzustellen. "Aber Striedl war ein Revoluzzer. Er tat, was er wollte", sagt Brunner auf dem Weg zum Altarraum. Das erklärt auch, dass er die Orgel natürlich selber spielte, weshalb er während der Messe ständig vom Altar zum Spieltisch und zurück eilte. Schon deshalb war es nötig, den Spieltisch in der Nähe des Altars zu platzieren, ein weiteres Kuriosum.
An der Wand neben dem Spieltisch hängt noch eine Fotografie, die Striedl beim Orgelspiel zeigt. "Wenn er merkte, dass die Kinder mal unaufmerksam waren, dann haute er mit der Hand auf die Orgel", erinnert sich Brunner. Am nächsten Tag bereute er seinen Wutausbruch und verteilte zur Versöhnung Guatl und Bonbons.
Für Weihnachten hatte Striedl spezielle Register wie Glockenspiel, Gong-Glocken und Schalmei-Oboe einbauen lassen, lauter Klangelemente, die viele andere Orgeln nicht haben. "Gerade an Weihnachten bot Striedl orgeltechnisch alles auf, was das Instrument hergab", sagt Brunner. Die neue Orgel zauberte nie gehörte Klänge in die Kirche, und bald mussten Platzkarten vergeben werden, um dem Andrang der Besucher Herr zu werden. "Heute wären diese Register unbezahlbar", sagt Brunner, der jetzt am Spieltisch sitzt und die 3722 Pfeifen der Orgel langsam zum Leben erweckt. Mal klingen sie so leise, als summten die Engel des Advents, dann schwillt ihr Brausen an, als jage ein Sturm über die Äcker. Manche Klangkronen erwecken die Illusion, als schwirrten unsichtbare Mächte kreuz und quer durch die Kirche.
Freilich muss eine solche Anlage ständig in Schuss gehalten werden, und das ist extrem teuer. Einheimische Firmen, sagt Brunner, trauten sich wegen der Elektronik gar nicht mehr hin. "Zu komplex für uns", sagen sie. Früher, bei den mechanisch betriebenen Orgeln, war das einfacher. Etwa bei der Vorgänger-Orgel, die noch auf der Empore steht, aber innen ausgehöhlt ist. Dieses Instrument hatte anno 1886 der Orgelbauer Edenhofer in Regen gebaut. Aus jener Familie stammte - alles hängt mit allem zusammen - auch die Mutter der Komikerin Liesl Karlstadt.
Statt in Rom landete der Pfarrer im Krankenhaus Eggenfelden
Für Komik sorgte gelegentlich auch Striedl. "Er studierte zwar Theologie, aber sein Lebensinhalt war die Musik", sagt Brunner. Überdies brannte im Herzen des begnadeten Musikers und Pfarrers aber auch eine Leidenschaft für den Fußball. Manchmal kam es vor, erinnert sich Brunner, dass er in der Predigt nur über den FC Bayern sprach. Oder er zählte die Gründe auf, warum der SV Malgersdorf in der Kreisklasse schon wieder verloren hatte. Bei den sehr frommen Kirchgängerinnen kam das weniger gut an.
Ein Herzenswunsch Striedls war es, mit der Malgersdorfer Kantorei in der Grabeskirche Santa Cecilia in Rom zu singen, also bei der Schutzpatronin der Kirchenmusik, deren Skulptur auch in der Malgersdorfer Kirche hängt. Im Mai 1999 war die Reise endlich gebucht. Doch kurz vor der Abreise stürzte Striedl über eine Türschwelle und landete statt in Rom im Krankenhaus Eggenfelden. Dort starb er in der Nacht auf den 14. Juni, kurz nachdem der Chor ohne ihn in Rom gesungen hatte. Striedls Grab grenzt direkt an die Sakristei, er ruht nur wenige Meter von seiner geliebten Orgel entfernt.