Literatur:Der Dorfsammler

Literatur: Helmut Haberkamm reist für ein Buchprojekt in fränkische Dörfer und lässt sich von den Bewohnern Geschichten erzählen. In Lungsdorf fühlen sich manche schon wie in einem Freilandmuseum.

Helmut Haberkamm reist für ein Buchprojekt in fränkische Dörfer und lässt sich von den Bewohnern Geschichten erzählen. In Lungsdorf fühlen sich manche schon wie in einem Freilandmuseum.

(Foto: Johannes Hirschlach)

Mundartdichter Helmut Haberkamm reist durch Franken und erkundet die Geschichten von kleinen Orten. Von Lungsdorf zum Beispiel, wo nur 24 Menschen leben, jeden Tag aber viele Ausflügler vorbeikommen. Der Schriftsteller will wissen, wie so etwas Dörfer verändert

Von Johannes Hirschlach, Lungsdorf

Das kleine Lungsdorf könnte ein Ort der Ruhe und der Einkehr sein. Am Ortsrand plätschert leise ein Fluss vorbei, die "Bengerds", wie ihn die Einheimischen nennen. Die Pegnitz, wie es in den Atlanten steht. Windschiefe Fachwerkhäuser bergen rustikalen Charme. Doch draußen knattern und heulen Motorräder vorbei. Das Pegnitztal, ein Naturidyll im östlichen Nürnberger Land, ist mit seinen vielen engen Kurven ein Eldorado für motorisierte Zweiradfahrer. In Lungsdorf, unweit der Kleinstadt Velden, bricht sich das Bahn. Die Staatsstraße führt durch das Dorf.

Lungsdorf ist eine Ortschaft voller Fremder. 24 Menschen leben in dem beschaulichen Dorf. Besucher sind es jeden Tag viel mehr. Einer verspeist gerade Mohnkuchen. Helmut Haberkamm ist kein Motorradfahrer, kein Kletterer und auch nicht mit dem Ruderboot gekommen. Der fränkische Mundartdichter ist wegen Xenia Küster da. Und wegen der 23 anderen Bewohner Lungsdorfs. Haberkamm, runde Brille, weiche Gesichtszüge, sammelt Dörfer und deren Geschichten für ein Buchprojekt.

"Man muss eben damit leben, dass Leute kommen und unser Haus fotografieren", sagt Xenia Küster. Sie wohnt seit zehn Jahren in Lungsdorf. Jetzt sitzt sie unter dem Holzvorbau des Kiosks, der am Ufer steht, inmitten grüner Wiesen. Es gibt Radler und Wurstbrote. Motorradfahrer halten gerne an dem mit Brettern verkleideten Häuschen. Der Kiosk ist ein Treffpunkt der Ausflügler. Radfahrer, Wanderer, Kletterer, Kajak-Sportler und Spaziergänger mit Hunden treffen dort aufeinander. An diesem Tag Xenia Küster und der Dichter.

Der 56-Jährige will unter anderem ergründen, welche Auswirkungen die Verstädterung auf das Leben auf dem Land hat. 20 Dörfer hat er dafür besucht und mit den Menschen dort gesprochen. Einsame Orte hat er bereist, kilometerweit von der nächsten Siedlung entfernt. Dörfer, in denen kaum ein Bus hält, in denen die Alteingesessenen sterben und die Jungen wegziehen. Klingende Namen wie Laibarös, Weimarschmieden und Rockenbach sind darunter. Oder eben Lungsdorf: ein Straßendorf voller Leben, mit guter Verkehrsanbindung, malerischem Ortsbild - und dennoch mit nur zwei Dutzend Einwohnern.

"Lungsdorf ist der schönste Arsch der Welt", sagt Margaretha Deinzer, grinst und schiebt hinterher, auf Postkarten mache sich aber der Spruch "Perle des Pegnitztals" besser. Sie ist mit ihren 82 Jahren die älteste Bewohnerin des Dorfs. Sie empfängt Haberkamm in ihrem Wohnzimmer. Es riecht nach Streuselkuchen, in der Ecke schwingt lautlos das Pendel einer Standuhr. In den 60 Jahren, seit sie hier lebt, habe sich Lungsdorf fast nicht verändert, erzählt Deinzer. Nur das Gasthaus sei verschwunden - und die Kinder, davon habe es früher auch mehr gegeben.

Es ist eine Antwort, die zwangsläufig zu einem von Haberkamms Kernanliegen führt: "Warum leben Menschen in diesem Dorf?" - die Frage treibt ihn bei allen Besuchen an, ob in Lungsdorf oder Laibarös. Feste Kriterien, nach denen er seine Studienobjekte auswählt, habe er nicht. Von Bekannten hat er Tipps bekommen. Was aber zähle, sei der erste Eindruck, sagt Haberkamm. "Ich gehe einfach hin und schaue: Gibt es Leute auf der Straße? Gibt es eine Stelle, an der du gerne anhältst?" Am Ende sollen seine Texte den Leser zur Eigeninitiative motivieren: "Fahrt raus und schaut euch selbst eure Dörfer an", beschreibt Haberkamm die Botschaft, die er vermitteln will. Wie er selbst Lungsdorf auf den ersten Eindruck empfunden hat, darüber denkt er lange nach. Dann nennt er ein einziges Wort: "anheimelnd".

Die erste Person, die Haberkamm in Lungsdorf auf der Straße getroffen hat, ist Hermann Meyer, ein stämmiger Rentner, ehemaliger Gerüstbauer. Er empfängt den Autor in seiner Garage, genauer gesagt im Hinterzimmer, eine urige Stube mit Stammtischatmosphäre. Weil es in Lungsdorf keinen Versammlungssaal gibt, finden auch die Sitzungen des Dorfvereins in Meyers Garage statt. Es ist die Party-Location für alle Einwohner. Eine beachtliche Sammlung an Biergläsern stapelt sich in Regalen, vergilbte Postkarten hängen an der Wand.

Haberkamm hat eine Karte von Lungsdorf mitgebracht. Er will, dass Meyer ihm die im Dorf kursierenden Spitznamen für Häuser und Straßen verrät und vermerkt, wo früher Metzgerei und Kolonialwarenladen standen. Die Infos verarbeitet später Grafikerin Annalena Weber. Haberkamm verzichtet bewusst auf aktuelle Fotografien in seinem Buch, Zeichnungen sind ihm lieber. "Grafiken behalten eine unglaubliche Gültigkeit", sagt er.

Während Meyer die Karte studiert, erklärt er Helmut Haberkamm, warum Lungsdorf trotz guter Lage immer ein kleiner Weiler geblieben ist. "Ensembleschutz", sagt der Senior mit vielsagendem Blick. Es ist das Stichwort, das auch die anderen Bewohner des Dorfs an diesem Tag häufig nennen. Eingezwängt zwischen Hügeln, Fluss und Überschwemmungsgebieten kann Lungsdorf nicht wachsen - und weil die Bestandshäuser unter Denkmalschutz stehen, ist an deren Abriss nicht zu denken. Eine Sanierung koste dagegen meist das Vielfache eines Neubaus, sagt Meyer. Also bleibt alles, wie es ist.

"Wir werden einmal das erste bewohnte Freilandmuseum", scherzt Monika Lauber. Sie betreibt den kleinen Kiosk am Pegnitzufer. Eine gewisse Neigung zur Selbstironie ist bei allen Bewohnern festzustellen. Am starken Zusammenhalt untereinander lässt Lauber aber keinen Zweifel, während sie hinter dem Tresen Besteck sortiert: "Wir nehmen alle auf, egal welchen Schlag sie haben." Es ist ein Satz, der zu Haberkamms Kernfrage zurückführt: Wer wohnt in diesem Dorf?

Es sind Menschen wie Hermann Meyer und Margaretha Deinzer, die seit Jahrzehnten hier leben. Menschen wie Monika Lauber, die sagen, sie könnten sich einfach nicht vorstellen, woanders zu wohnen als in Lungsdorf. Menschen wie Xenia Küster, die herziehen, weil sie finden, dass "alte Häuser einen Charakter haben". Und 20 weitere Menschen, über deren Geschichten Helmut Haberkamm in seinem Buch schreiben wird.

Helmut Haberkamms "Kleine Sammlung fränkischer Dörfer" erscheint Ende November 2018 im Verlag ars vivendi.

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