Süddeutsche Zeitung

Lindau:Die Nobelpreisträgerjäger

Jedes Jahr treffen sich in Lindau zahlreiche hoch dekorierte Wissenschaftler mit den besten Nachwuchsforschern aus aller Welt. Mit dabei sind auch einige Studenten aus Bayern. Sie erleben spannende und anstrengende Tage - und sehr kurze Nächte

Von Stefan Mayr, Lindau

Vor ein Uhr nachts macht Lena Funcke dieser Tage das Licht nicht aus. Am Montag ist es sogar drei Uhr geworden. Die 21-jährige Studentin besucht in dieser Woche Lindau, sie spricht von "aufregenden und interessanten Eindrücken" und dass sie "kaum zum Schlafen kommt". Funckes Programm am Bodensee ist tatsächlich sehr außergewöhnlich. Sie ist nicht etwa zum Urlauben und Feiern hier. Sondern zum Zuhören, Diskutieren, Lernen und Kontakte knüpfen. Die Physikerin von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ist eine von 400 Nachwuchswissenschaftlern aus aller Welt, die an der 66. Lindauer Nobelpreisträgertagung teilnehmen dürfen.

Die jungen Forscher haben das Privileg, sich gleich mit 31 Nobelpreisträgern treffen zu können. Diese Möglichkeit gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Die Tagung findet jedes Jahr auf der Bodensee-Insel statt, heuer lautet das Thema: Physik. Für die Studenten war es noch nie so schwer wie diesmal, dabei zu sein. Weil die Lindauer Inselhalle derzeit saniert wird, findet die Tagung im kleineren Stadttheater statt. Deshalb wurden nur 400 statt 600 Nachwuchsforscher eingeladen. Hier tummeln sich also die Besten der Besten, die in einem aufwendigen Verfahren ausgesucht wurden. Lena Funcke hatte aus München die kürzesten Anreise - und sie ist mit 21 eine der Jüngsten. Ihr Abitur machte sie bereits mit 17. Das lastete sie nicht aus, parallel zur Schule besuchte sie die Uni und schrieb dort auch Klausuren. Damit hatte sie mit 19 ihren Bachelor in der Tasche. Danach ging sie nach Cambridge und baute dort in einem Jahr ihren Master. Jetzt ist sie 21 und bastelt an ihrer Promotion im Fachgebiet Teilchenphysik und Kosmologie. Thema der Doktorarbeit: nicht weniger als ein theoretisches Modell zur Herkunft der Neutrinos. "Bis jetzt ist es theoretisch nicht geklärt, wo die kleinen Massen der Neutrinos herkommen." Am Dienstag durfte sie ihre Theorie in einer Poster-Präsentation vorstellen. Diese Ehre erhielten nur 30 Nachwuchsforscher.

Da stand sie also in der Halle des Hotels Bayerischer Hof und stellte sich den interessierten und kritischen Fragen anderer Top-Experten. Auch Arthur McDonald kam vorbei. Der Kanadier hat 2015 den Nobelpreis erhalten, weil er mit Takaaki Kajita erstmals experimentell nachgewiesen hat, dass Neutrinos eine Masse haben. Etwa eine Viertelstunde waren Funcke und McDonald am Fachsimpeln. "Er war sehr interessiert an dem Modell", sagt sie, "und wir haben uns lange über laufende und geplante Experimente unterhalten, mit welchen man unsere Ideen überprüfen kann." 15 Minuten intensiver Austausch unter vier Augen mit einem Nobelpreisträger, das kann ihr niemand mehr nehmen.

"Die inspirierenden Vorlesungen und Diskussionen begeistern und erfüllen mich sehr", sagt Funcke. "Ich habe viel gelernt, neue Forschungsideen entwickelt, und es ist sogar eine neue Kollaboration entstanden." Bei diversen Abendessen hat sie weitere Nobelpreisträger getroffen. Manche von ihnen gaben sogar "sehr persönliche Einblicke" - auch "von ihrer Motivation und ihren Tiefschlägen". All das sei so spannend, dass sie alle Eindrücke bis tief in die Nacht mit ihrer Kollegin diskutiert, mit der sie ein Hotelzimmer teilt.

Auch Maximilian Totzauer, 27, von der LMU und Dominik Rattenbacher, 21, von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg macht der Aufenthalt in Lindau glücklich - und müde. Rattenbacher spricht sogar vom "Geist von Lindau": "Es herrscht eine einmalige Atmosphäre hier, man trifft viele hoch qualifizierte Wissenschaftler und kommt sofort sehr gut ins Gespräch."

Das Programm ist extrem eng getaktet. Los geht es um 7 Uhr - nein, nicht mit einem Frühstück, sondern mit einem "Science-Breakfast", in dem wissenschaftliche Fragen erörtert werden. An den Vormittagen halten die Preisträger Vorträge. "Die sind teilweise mit guten Gags gewürzt", schwärmt Maximilian Totzauer. Es gebe durchaus auch stinknormale "Standard-Referate", aber so mancher Laureat habe "sich eine halbe Show ausgedacht".

Gegen 13 Uhr beginnt der Andrang aufs Mittagessen, da unterscheiden sich hochbegabte Physik-Doktoranden wenig vom unmotivierten Otto Normalschüler. Die Nobelpreisträger haben einen Extra-Aufenthaltsraum, in den sie sich zurückziehen können. Aber so mancher Senior-Wissenschaftler verlässt den abgeschirmten Bereich bewusst und mischt sich unter die Studenten. "Da bildet sich sofort immer eine Menschentraube", erzählt Dominik Rattenbacher. Und wer die angeregten Gespräche beobachtet, weiß nie genau, wer den Austausch mehr genießt: die Nobelpreisträger oder ihre Jäger?

Nachmittags gibt es kleine, intime Diskussionsrunden, bei denen die Wissenschaftler bewusst unter sich sind. Keine Presse, keine anderen Störenfriede. "Man kann sich morgens aussuchen, an welcher Runde man am Nachmittag teilnehmen will", sagt Totzauer, der in Ingolstadt aufgewachsen ist und in Pfaffenhofen/Ilm lebt. Abends gibt es Dinner-Events, bei denen die Jungforscher ihre Vorbilder zu Tisch kennenlernen können. Am Montagabend in Bregenz speiste jeder Laureat an einem Tisch mit zehn Nachwuchsphysikern. Am Dienstag gab es "Grill and Chill", also ein klassisches Grillfest am Seeufer. Die klugen Köpfe können also auch Party machen. Donnerstagabend steht der traditionelle "Bayerische Abend" an, mit Schuhplattlern und Jodlern, Weißbier, Brezen und Weißwurst. Am Freitag endet die Tagung mit einer Bootsfahrt auf die Insel Mainau, inklusive "Wissenschafts-Picknick" und Abschlussfest.

Lena Funcke ist schon vor dem großen Finale begeistert: "Ich bin positiv überrascht, dass die Preisträger so offen auf die jungen Wissenschaftler zugehen." Das bestätigt auch Maximilian Totzauer nach einem Gespräch mit Martin Karplus, Chemie-Nobelpreisträger von 2013. "Er ist auf uns zugekommen und hat gefragt, woher wir kommen und was wir machen."

Nach der Abschlussfete wird Dominik Rattenbacher erst einmal nach Hause fahren, alle Eindrücke sacken lassen. Und ausschlafen. Lena Funcke und Maximilian Totzauer haben dagegen wenig Zeit zum Durchschnaufen. Sie müssen schon am Sonntag weiter zur nächsten großen Fachkonferenz: "Neutrino 2016" in London.

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Quelle:
SZ vom 01.07.2016
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