Ein Langstrecken-Rennen ist für die Läufer nur selten ein Vergnügen, erst recht nicht in der Schlussrunde, wenn die Beine bleischwer werden und die Lunge sticht und schmerzt. Aber manchmal kommt es vor, dass einem Athleten plötzlich Flügel wachsen. So einen Moment erlebte der Sportler Ludwig Müller am 21. September 1958 bei einem 10 000-Meter-Rennen im Augsburger Rosenaustadion. Er war als krasser Außenseiter an den Start gegangen. Deutsche Läufer konnten damals auf diesen Strecken, wie es im Vorbericht der SZ hieß, international nicht mithalten, und gegen die russischen Langstreckler war sowieso "kein Blumentopf zu gewinnen", wie die SZ orakelte.
Was dann folgte, ging deshalb als Sensation in die Sportgeschichte ein. Vom Start weg peitschte das Augsburger Publikum den Deutschen mit "Mül-ler, Mül-ler"-Rufen nach vorne. "Ich hab mir gesagt: Du darfst die Leute nicht enttäuschen, du musst gewinnen", erzählte Müller später und griff dafür sogar in die psychologische Trickkiste. 600 Meter vor dem Ziel habe er dem russischen Favoriten Pudow das einzige russische Wort zugerufen, das er kannte, erinnerte sich Müller. Es hieß "dawaj!", vorwärts. Dann ließ er sich, Schwäche vortäuschend, zurückfallen, um aber kurz vor der Zielgeraden wieder aufzuschließen. Müller schaute zu dem Russen hinüber, der sichtlich überrascht reagierte und plötzlich Blei in den Beinen zu haben schien. Jedenfalls konnte er dem frenetisch angefeuerten Müller auf der Zielgeraden nicht mehr folgen. Der Deutsche gewann in einer Zeit von 29 Minuten und 52 Sekunden. "Ich war so beflügelt, das war unglaublich", sagte Müller. Für die Journalisten war er fortan der "Held von Augsburg", ein Titel, der ihm auf Dauer geblieben ist.
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Ähnlich überraschend hatte Müller bereits am Tag zuvor das 5000-Meter-Rennen gewonnen. Schon dort schien das Stadion laut SZ vor Begeisterung zu bersten. "Müller fing plötzlich wie ein Sprinter zu spurten an, raste an den beiden Russen wie ein Schnellzug vorbei", heißt es im SZ-Bericht. Dieses Spektakel trug sich während eines zweitägigen Leichtathletik-Länderkampfs gegen die schier unbezwingbare Sowjetunion zu. Es war ein David-gegen-Goliath-Duell. Solche Länderkämpfe waren damals ein Ereignis, das man heute höchstens noch mit einem Fußballspiel der Champions League vergleichen kann. Zehntausende strömten in die Stadien, natürlich auch in das Augsburger Rosenaustadion, das seinerzeit zu den modernsten Sportstätten in Deutschland zählte.
"Ihr lebt zu gut, ihr fahrt lieber Auto, ihr seid zu faul."
Nach dem Krieg fielen die Erfolge der deutschen Sportler - mit Ausnahme des Sieges bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 - bis zur Mitte der 50er-Jahre recht bescheiden aus. Das lag an den Folgen des Kriegs, und als langsam das Wirtschaftswunder einsetzte, schien auch der Aufschwung für Sporterfolge eher hinderlich zu sein. Davon war jedenfalls der tschechische Wunderläufer Emil Zatopek (1922-2000) überzeugt, der in der Lage war, seine Analyse der westdeutschen Sportschwäche kurz und knackig zu formulieren: "Ihr lebt zu gut, ihr fahrt lieber Auto, ihr seid zu faul."
Das ließen sich die Deutschen nicht zweimal sagen. Von da an ging es rasant bergauf, die Sportzeitschriften überschlugen sich förmlich vor Begeisterung über die Erfolge der Landsleute. Es war eine Zeit, in der der Fußball die restlichen Sportarten noch nicht plattgewalzt hatte und deshalb auch die Leichtathletik ein begeistertes Publikum fand. Große Namen wie die Sprinter Armin Hary und Martin Lauer (beide Olympiasieger 1960) sorgten für Weltrekorde und Medaillenruhm. Und dann gab es noch Athleten, die zwar keinen Olympiasieg errangen, aber dennoch in die Ruhmeshallen des Sports eingingen. Zu ihnen zählt der "Held von Augsburg", Ludwig Müller, der an diesem Dienstag seinen 90. Geburtstag feiert.
Nach seinen beiden Siegläufen zeigte Müller dem damaligen SZ-Reporter Ludwig Koppenwallner seine blutigen Zehen. Auch das zeigt, dass er aus hartem Holz geschnitzt war. Müller hatte nämlich erst kurz vor dem Start erfahren, dass er auch die 10 000 Meter laufen musste. In der Eile packte er dann zwei linke Laufschuhe ein. Der 800-Meter-Läufer Paul Schmidt lieh ihm in der Not seine eigenen Schuhe, die Müller, wie sich im Rennen schmerzlich herausstellte, leider zu klein waren. "In dem Augsburger Hexenkessel vergaß ich aber die Schmerzen", sagte er zu Koppenwallner.
Der Sieg sollte sich für Müller auch beruflich auszahlen. "Nur dadurch hab' ich eine Stelle als Baukontrolleur im Rathaus in Kassel bekommen", erzählte der gelernte Maurer. Es ist merkwürdig, wie schnell es verblasste, dass Müller nicht nur in Augsburg sportlich erfolgreich war. Immerhin wurde er bei den Olympischen Spielen 1960 Sechster im 3000-Meter-Hindernislauf, überdies errang er vier deutsche Meistertitel und nahm an fast 50 Länderkämpfen teil.
Müller hatte es, wie manch anderer Nachkriegsathlet, trotz größter Widrigkeiten nach oben geschafft. Die Mutter wurde im Krieg schwer verletzt und war ein Pflegefall, der Vater kehrte erst 1955 aus der Kriegsgefangenschaft zurück, der Bub überlebte im Keller einer Ruine, kam dann in ein Heim. Bisweilen bettelte er bei den Bauern um ein bisschen Essen. Der Sport holte ihn aus den tiefsten Tiefen heraus. Er war zunächst Fußballer. Da er aufgrund einer Handgreiflichkeit während eines Spiels gesperrt worden war, begann er erst mit 21 Jahren mit dem Laufen: "Am Morgen von fünf bis sieben und am Abend von fünf bis sieben." Tagsüber arbeitete er in einer Fabrik. Seinen letzten Deutschen Meistertitel gewann Ludwig Müller 1963 im Augsburger Rosenaustadion, wo er fünf Jahre zuvor zum "Helden von Augsburg" gekürt wurde. Seinen Plan, 1972 in München beim Marathonlauf anzutreten, konnte er jedoch nicht mehr verwirklichen. Trotzdem: "Die Siege von Augsburg sind mir genau so viel wert wie Olympiagold und ein Weltrekord", sagte Müller stets, wenn er darauf angesprochen wurde.