Bildungspolitik:Wenn Studierende frühzeitig das Lehren lernen

Lesezeit: 4 Min.

Studentinnen, die schon während ihres Studiums Kinder unterrichten: Lena Stiel, 20, hält am Maria-Ward-Gymnasium in Augsburg eine Deutschstunde in einer achten Klasse. (Foto: Anna Günther)

Das Schulwerk der Diözese Augsburg bietet Studierenden eine Art duales Studium an, das Theorie mit Praxis an den Schulen verbindet. Die angehenden Lehrer sind begeistert. Und die kirchlichen Privatschulen hoffen, dass ihnen der Nachwuchs bleibt in Zeiten des massiven Lehrermangels.

Von Anna Günther

Gefühle, Gedanken oder geschilderte Handlung? Das sollen 20 Achtklässler des Maria-Ward-Gymnasiums in Augsburg an diesem Morgen analysieren. Wann denkt der Ich-Erzähler in Heinz Reins Kurzgeschichte „Der Gang durch den Tunnel“, wann schildert er äußere Umstände? Während die Jugendlichen auf ihren Tablets Sätze markieren, fragt man sich, wie es in Lena Stiels Inneren so aussieht.

Die 20-Jährige führt souverän durch diese Deutschstunde. Sie ruft Mädchen und Buben auf, erklärt noch einmal innere und äußere Handlung in der Kurzgeschichte. Dass sie aufgeregt ist, blitzt nur auf, wenn sie sich einen Moment zu lang am Pult festhält, die Lippen zusammenkneift oder einen fragenden Blick in die letzte Reihe wirft.

Dort sitzt Johannes Wüst, ihr Mentor. Eigentlich ist Wüst Lehrer dieser Klasse. Stiel studiert im dritten Semester Deutsch und katholische Religion auf Lehramt fürs Gymnasium. An diesem Morgen hält sie ihre vierte Unterrichtsstunde überhaupt und das gewissermaßen alleine.

„Ich war schon nervös“, sagt Stiel später, „aber ich habe mich gut vorbereitet.“ Das half. Und die Aufregung habe weniger an den Kindern gelegen als daran, dass neben Wüst auch Schulleiter und Presse saßen. Ihre Nervosität sei rasch verflogen, sagt Stiel. „Ich habe mich gut gefühlt.“ Das sei das Allerwichtigste, jetzt am Anfang, findet Mentor Wüst.

Denn viele angehende Lehrer merken erst im Referendariat, ob ihnen das Unterrichten liegt. Falls nicht, haben sie mindestens fünf Jahre vergebens studiert. „Praxisschock“ heißt das in einschlägigen Foren, der nicht selten zum Abbruch der Ausbildung führt. Die Angst davor hatte Stiel und ihre Kollegen schon vor dem ersten Tag an der Uni erreicht. Abbrecherquoten lassen sich nicht alleine damit begründen, aber auch im bayerischen Kultusministerium wurde erkannt, dass zu wenig Lehrernachwuchs von den Universitäten kommt. Mit Imagekampagnen und Werbung an Schulen versucht man gegenzusteuern. Die Ausbildung bleibt unverändert.

Lena Stiel scheut auch vor komplexen Themen nicht zurück: Ihre erste Religionsstunde drehte sich um Leihmutterschaft. Seit Oktober begleitet Stiel unter anderem ihren Mentor Wüst einmal in der Woche in seine Deutschstunden, bekommt Tipps sowie Aufgaben von ihm. Sie durfte erst einzelne Sequenzen übernehmen und nun eigene Stunden halten.

Das ist deutlich früher als üblich in der Lehrerausbildung in Bayern. Lena Stiel und 16 Studierende der Universität Augsburg sind Teil eines Modellprojekts des Schulwerks der Diözese Augsburg. Das Schulwerk lässt seit diesem Schuljahr Studierende vom dritten Semester an in den Unterricht und bietet den jungen Menschen damit eine Art duales Studium an. So sollen diese Studierenden die Praxis schon parallel zu den üblichen Inhalten des Lehramtsstudiums lernen.

Die jungen Frauen und Männer arbeiten zwischen vier und acht Stunden pro Woche an ihren Stammschulen und bekommen 1100 Euro Azubigehalt. Betreut werden sie von Mentoren sowie erfahrenen Seminarlehrkräften, die beim Freistaat jahrelang Lehrer ausgebildet haben und nach der Pensionierung nun beim Schulwerk weitermachen.

Das Augsburger Projekt stößt durchaus auf Widerstand

So früh im Studium eigenverantwortlich zu unterrichten ist einmalig in Bayern: Auf das theoretische Studium folgen üblicherweise zwei Jahre praktische Ausbildung im Referendariat an den Schulen. Zwar bieten einzelne andere Bundesländer schon ein duales Lehramtsstudium an, aber im Freistaat gab es bisher nur Projekte für mehr Praxis im Studium oder einen dualen Weg allein für Berufsschullehrer.

Das Augsburger Projekt stößt durchaus auf Widerstand: Wer sich umhört, vernimmt unter anderem von den Lehrerverbänden Naserümpfen bis offenen Spott. Schulwerkchef Peter Kosak beeindruckt das nicht. Er beruft sich auf eine neue Ausnahmeregel für Privatschulen, nach der schon Menschen mit erstem Examen unterrichten dürfen. Konzipiert hat Kosak das Projekt mit dem Augsburger Schulpädagogikprofessor Klaus Zierer. Das Schulwerk bietet diesen dualen Weg gemeinsam mit Zierers Lehrstuhl an. Nicht mit der Uni Augsburg an sich.

Sonderwege werden offenbar nicht gern gesehen, Zierer und Kosak berichten von harscher Kritik und Gegenwind. Zumal sie ihr Projekt aufsetzten, als gerade eine Expertenkommission tagte, von Ministerpräsident Markus Söder selbst eingesetzt und mit dem Auftrag versehen, „ohne Denkverbote“ eine flexiblere Lehrerbildung aufzusetzen. Aber ein Vierteljahr, nachdem die Experten der Lehrerverbände und Universitäten ihre Ideen in der Staatskanzlei abgeliefert hatten, ist laut Kultus- und Wissenschaftsministerium noch immer offen, wann öffentlich etwas davon vorgestellt wird.

Für Schulwerksleiter Kosak ist das Projekt „Campus.Schule.Werk“ eine Win-win-Situation: Der Lehrermangel in Bayern ist derzeit so groß, dass der Staat fast jeden einstellt und private wie kommunale Schulträger das Nachsehen haben. Die Studierenden sollen im Projekt in geschützter Atmosphäre frühzeitig praktische Erfahrungen sammeln.  Und Kosak hofft, junge Lehrer für die 46 Schulen des Bistums zu gewinnen, bevor sie Jobangebote vom Staat oder kommunalen Schulträgern bekommen. Um dort zu arbeiten, müssten sie das Referendariat nachholen.

Lena Stiel und die anderen Projekt-Teilnehmer schreckte das nicht. Die Nachfrage überstieg die Plätze deutlich. Unter den 17 angehenden Pädagogen sind zielstrebige wie Stiel sowie Spätberufene, die sich umorientieren und Zeit sparen wollen. Und es sind Enthusiastikerinnen wie Marie Grabmann, die an diesem Tag am anderen Ende der Augsburger Altstadt an der St.-Ursula-Realschule unterrichtet.

Marie Grabmann, 21 Jahre alt, geht mit viel Schwung an den Mathe-Unterricht in einer sechsten Klasse an der St.-Ursula-Realschule in Augsburg. (Foto: Anna Günther)

„Super stark“, ruft Grabmann und klatscht laut in die Hände. „Ihr könnt’s des!“ Was nach Bundesjugendspielen klingt, ist Mathematikunterricht. Grabmann, 21, erklärt 32 Sechstklässlern die Mittelsenkrechte und sprüht dabei so vor Begeisterung, dass sich diese siebte Stunde eher nach Geometrieparty anfühlt als nach Mittagstief. Ihre Fröhlichkeit steckt an, zugleich erklärt sie den Kindern präzise, wie sie mit dem Zirkel die Gerade ermitteln und korrekt zeichnen. Dass ihr am Ende der Stunde die Zeit ausgeht, treibt Grabmann um. Zeitmanagement müsse sie noch lernen, sagt sie. Ihre Mentorin beruhigt, das gehe anfangs allen so.

Die klassische Lehrerausbildung wäre nichts für sie, erzählt Grabmann nach der Unterrichtsstunde. Nach den ersten beiden Semestern in Mathe und katholischer Religion für Realschulen habe sie sogar an ihrem Berufswunsch gezweifelt. Zu viel Theorie, zu trocken. Dann stellte Schulpädagogikprofessor Zierer das duale Projekt vor. „Plötzlich ergab alles Sinn“, sagt Grabmann, „ich dachte mir, wow, das ist genau die Kombination aus Praxis und Theorie, die mir in den ersten beiden Semestern so gefehlt hat.“ Teil von Campus.Schule.Werk zu sein, nennt sie „Glück“.

Naiv ist sie freilich nicht. Sie würde das Modellprojekt anderen Studierenden empfehlen und erzählt von Kommilitonen, die begeistert sind, wenn sie davon hören. Aber zu den Ersten zu gehören, habe Haken: Grabmann erzählt von anfänglichem Organisationswirrwarr, Improvisation und doppelter Kommunikation. Groß zu stören scheint das weder Grabmann noch Lena Stiel. Und das Interesse ist ungebrochen: Zwölf Studierende haben sich bereits für die neue Runde im kommenden Schuljahr beworben.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Personalmangel an Schulen
:Bayerns Lehrer sollen mehr arbeiten – freiwillig oder unfreiwillig

Kultusministerin Anna Stolz will mit einem neuen Konzept versuchen, die massiven Personallücken an Bayerns Schulen zu stopfen. So viel Transparenz ist neu, schmerzen werden die Einschnitte an den Schulen trotzdem.

SZ PlusVon Anna Günther

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: