Lebensgefährlicher Trend:Selfies auf Schienen

Lebensgefährlicher Trend: Hannah aus Traunstein setzte sich für ein cooles Foto auf die Gleise. Sie hatte Glück, dass kein Zug kam.

Hannah aus Traunstein setzte sich für ein cooles Foto auf die Gleise. Sie hatte Glück, dass kein Zug kam.

(Foto: privat, Bearbeitung: Schmidt)

Immer mehr Mädchen fotografieren sich im Gleis, für viele Likes auf Facebook und als Treuebeweis an die beste Freundin.

Von Lisa Schnell, Traunstein

Der Tag, an dem Hannah leichtsinnig war, vielleicht sogar ihr Leben riskierte, ist ein schöner Frühlingstag im April gewesen. Hannah hat schulfrei, in ein paar Tagen wird sie ihren 14. Geburtstag feiern. Sie trägt ihre weiße Bluse, die Augen sind schwarz geschminkt, ihre langen, hellblonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jeden Tag schreibt sie ihren Freunden Nachrichten über Facebook. Wie ihr Profilbild auf dem sozialen Netzwerk aussieht, ist ihr wichtig. Sie braucht mal wieder ein neues, am besten eines, das nicht jeder hat. Das erzählt Hannah ihrer Freundin, da gehen sie gerade auf einen Bahnübergang zu. Der perfekte Ort für ein Fotoshooting, finden sie. Hannah setzt sich im Schneidersitz zwischen die Schienen, macht ihr Fotogesicht. Stolz zeigt sie das Ergebnis später ihren Freunden. In welcher Gefahr sie schwebte, war ihr damals nicht klar.

Jetzt, drei Jahre später, blickt sie zu der Stelle, wo sie damals saß. "Wie kann man nur so dumm sein?", sagt sie und schüttelt den Kopf. Vanessa und Nicole können das nicht. Bei ihnen kam ein Zug. Die zwei Mädchen aus Memmingen, 13 und 16 Jahre alt, waren sofort tot. Sie machten ähnliche Fotos wie Hannah. Das war 2011. Zwei Jahre später starben zwei Mädchen in der Nähe von Dortmund bei einer ähnlichen Aktion. Und trotzdem: Der gefährliche Trend ist ungebrochen, vielleicht sogar so verbreitet wie nie.

Betriebsstörungen durch "Personen im Gleis" nehmen zu

Überall auf Facebook und Instagram präsentieren sich junge Mädchen auf Gleisen. Sie tänzeln in den Sonnenuntergang, balancieren auf den Schienen, schmiegen sich zwischen sie. Wie viele es genau sind, lässt sich nicht sagen. Doch die Zahl der "größeren Betriebsstörungen aufgrund von Personen im Gleis" nimmt in Bayern seit Jahren zu, von 2012 bis 2014 um mehr als 45 Prozent. Auch für dieses Jahr erwartet die Deutsche Bahn einen Anstieg. Allein bis Ende Juni gab es schon mehr als 960 Fälle.

Lebensgefährlicher Trend: Als sich Hannah für ihr Schienen-Selfie auf die Gleise setzte, war sie 13. Mit 16 ist sie zurückgekehrt - und sagt: "Es war eine Schnapsidee."

Als sich Hannah für ihr Schienen-Selfie auf die Gleise setzte, war sie 13. Mit 16 ist sie zurückgekehrt - und sagt: "Es war eine Schnapsidee."

(Foto: Lisa Schnell)

Was suchen Mädchen im Gleis? Was fasziniert sie so an genau diesen Fotos? "Das Motiv ist so alt wie die Gleise selbst", sagt Martin Voigt von der LMU München. Der Soziologe hat für seine Dissertation über Mädchenfreundschaften mehr als tausend Fotos und Videos analysiert. Schienen, die sich in der Ferne verlieren, symbolisieren Sehnsucht, Fernweh, einen langen Weg. Die Mädchen kennen die Bilder aus Filmen oder der Werbung und adaptieren sie in ihre Welt. In der dreht sich vieles um die "abffl" - die allerbeste Freundin fürs Leben.

Schienen bedeuten für diese Mädchen Unzertrennlichkeit

Ein Motiv taucht besonders oft auf: Zwei Mädchen gehen auf den Schienen dem Horizont entgegen, ihre Hände treffen sich in der Mitte der Gleise. "Oft bedeuten die Schienen für die Mädchen Unzertrennlichkeit", sagt Voigt. Genau wie die Gleise wollen auch sie ihren Weg nebeneinander gehen bis in die Unendlichkeit.

Das ist prinzipiell nichts Neues. Schon immer präsentierten Mädchen ihre Freundschaft offensiver als Jungs. Während für die Burschen meist ein harter Schulterklopfer zur Begrüßung ausreichte, lagen sich Mädchen auch früher schon öffentlich in den Armen. Doch die sozialen Netzwerke verschonen auch die Mädchenfreundschaft nicht. Wer die allerbeste und wer nur die beste Freundin ist, wer am originellsten die Zweisamkeit dokumentiert - das wird heute von der ganzen Klasse mitverfolgt und vor allem bewertet. "Die Präsentation als beste Freundin ist heute eine soziale Notwendigkeit", sagt Voigt.

Früher reichte "hab dich lieb", jetzt müssen Streicher sein

Der Wettlauf um die meisten Gefällt-mir-Klicks treibt absurde Blüten. Wer "abffl" sein will, der ist mit seiner Freundin auf Facebook verheiratet, der platziert hinter jede öffentliche Liebesbekundung mindestens ein rosa Herz. Und verbringt die freie Zeit, in der man sich gerade nicht gegenseitig fotografiert, damit, die Bilder einmal durch den Weichzeichner zu ziehen und zu einer fünfminütigen Liebesdiashow zusammenzubasteln - für die Freundin und für die Öffentlichkeit im Netz. Zu langsamen Hip-Hop-Beats mit Klaviergeklimper ist da dann zu lesen: "Ich bleib für immer nur bei Dir. Ich liebe dich so allerbeste Freundin."

Früher hat ein Bussi und ein "Hab dich lieb" gereicht, jetzt muss öffentlich das Streichorchester erklingen. Je dramatischer, umso besser. Da passt das Motiv der Schienen wunderbar. "Auch wenn jetzt ein Zug kommen würde, ich würde deine Hand nie loslassen", verspricht eine ihrer "abffl". "Was ist in einer Generation los, wenn Freundschaften zu symbiotischen Verbindungen werden, die eine normale Kameradschaft weit übersteigen?", fragt Voigt. Was fehlt, wenn alle Sehnsüchte auf eine Person projiziert werden? Für den Soziologen geht es um die großen, gesellschaftlichen Fragen. Für die Mädchen um ihr Leben.

"Es war eine Schnapsidee", sagt Hannah heute

Ein mulmiges Gefühl hatte Hannah schon, als sie sich zwischen die Schienen setzte. Doch sie hatte ja auf die Uhr geschaut, sich vergewissert, dass gerade kein Zug fährt. Außerdem würde sie den ja hören oder die Schranke. Nur: Auf den Gleisen, auf denen sie saß, fahren auch Güterzüge, die nicht im Fahrplan stehen. Die Schranke hätte sich lautlos gesenkt. Ob Hannah das Blinksignal gesehen hätte, während sie gerade damit beschäftigt war, in die Kamera zu lächeln? An all das hat sie damals nicht gedacht. "Es war eine Schnapsidee", sagt sie, lächelt verlegen und zieht die Ärmel ihrer Jacke über die Hände.

Eine Geste, die Maik Kaiser nur allzu gut kennt. Er sieht sie ständig, wenn er für die Bundespolizei in Schulklassen bei Nürnberg geht und Jugendliche über die Gefahren aufklärt. Seit dem Tod der zwei Mädchen in Memmingen ist die Polizei in Bayern auf das Thema aufmerksam geworden. In anderen Bundesländern ist der gefährliche Trend teilweise noch gar kein Thema. Kaum fängt Kaiser an, über die riskanten Fotos zu reden, sieht er verstohlene Blicke, manchmal wenden sich plötzlich alle Schüler zwei Mädchen zu. "Da weiß jeder, von was ich spreche", sagt Kaiser. Nur was so schlimm sein soll an den Bildern, verstehen viele nicht.

Lebensgefährlicher Trend: Polizist Maik Kaiser klärt in Schulen über die Gefahren auf.

Polizist Maik Kaiser klärt in Schulen über die Gefahren auf.

(Foto: oh)

Kommt ein Zug, hat man in den Gleisen kaum Chance

Kaiser kennt die "brutale Urgewalt" eines Zuges. Als Streifenpolizist fuhr der 48-Jährige mit den hellen blauen Augen und dem kantigen Gesicht jahrelang die Gleise ab. Er hat gesehen, wie ein Zug den Oberkörper eines Mannes abtrennte, hat die Transfusionen an der Unfallstelle gehalten. Dass man kaum eine Chance hat in den Gleisen, zeigt Kaiser den Schülern gerne vor Ort. Etwa an einer Stelle bei Feucht: Ein kleiner Weg führt an Schrebergärten vorbei zu sechs Gleisen. Die Fenster des stillgelegten Stellwerks sind zerbrochen, neben der morschen Tür bunte Graffiti. Am Horizont wird ein roter Punkt immer größer. "Erst umdrehen, wenn der Zug zu hören ist", sagt Kaiser. Das Rauschen der Autobahnbrücke, Windrascheln in den Bäumen, dann das Rattern des Zuges. Er ist nur noch etwa 100 Meter weg, ein paar Sekunden später zischt er vorbei. Der Wind wirbelt die Haare durcheinander, drückt das Gras neben den Gleisen nieder. "Und der war nicht mal schnell", sagt Kaiser.

1722 Personen im Gleis

In Bayern steigt die Zahl von Personen, die sich unerlaubt im Gleis aufhalten, ständig. Waren es 2012 noch 1181, liefen zwei Jahre später schon 1722 über die Schienen - ein Anstieg von 45 Prozent. Oft sind es Jugendliche. Buben klettern eher auf Güterwaggons herum, legen alle möglichen Gegenstände auf die Schienen oder surfen auf den Zügen mit. Erst kürzlich starben zwei Jugendliche in Nürnberg, weil sie in die Oberleitungen kamen. Für Mädchen sind die Gleise keine Mutprobe, sondern meist Kulisse für ein Fotoshooting. Oft sind es "beste Freundinnen", für die der Ort für ihre unzertrennliche Freundschaft steht. Für Lokführer bedeutet jede unerlaubte Person im Gleis aber ein traumatisches Erlebnis.

Mittlerweile fahren fast alle Züge mindestens 160 Kilometer pro Stunde. Ist der Zug noch 100 Meter entfernt, hat man etwa 2,5 Sekunden, um aus dem Gleis zu kommen. In den Schulen stoppt Kaiser die Zeit, wie lange die Kinder brauchen, um aus der Hocke vier Meter zu laufen, denn erst dann sind sie vor dem Windstoß des Zuges sicher. Es hat noch niemand geschafft. Er blickt dann in erschrockene Gesichter. "Niemand kann vorhersagen, wann ein Zug kommt", sagt er. Auch nicht, wann Züge die Gleise wechseln. Steht der Wind ungünstig, kann es sein, dass man sie gar nicht hört. Auch verrostete Schienen sind kein Zeichen dafür, dass die Gleise wenig befahren sind. "Es ist einfach immer lebensgefährlich", sagt Kaiser.

Selfies im Gleis sind lebensgefährlich - und eine Straftat

In jedem Fall aber drohen rechtliche Konsequenzen. Muss der Zug bremsen, hat nicht nur der Lokführer einen Schock fürs Leben, es handelt sich auch um einen "gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr" - eine Straftat. Auch wenn den meisten jungen Straftätern keine Freiheitsstrafe droht, bleiben doch zivilrechtliche Kosten, die oft enorm seien. Und alles für ein cooles Profilbild? Dass sich das nicht lohnt, würden die Schüler nach seinem Vortrag verstehen, sagt Kaiser. Und trotzdem: Es ist keine paar Monate her, dass seine Kollegen wieder Jugendliche beim Fotoshooting in den Gleisen erwischten.

Am Bahnhof trifft Hannah an diesem Tag zwei Freundinnen. Umarmung hier und da, die langen Haare der Mädchen wippen. Hannah würde sich nie wieder auf Gleise setzen, ihre Freundinnen verstehen die Aufregung aber nicht. Eine sagt: "Da ist es doch nicht gefährlich."

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