Süddeutsche Zeitung

Leben nach Unfall und Koma:Der schmerzliche Weg zurück

  • Miriam Maybach lag drei Wochen im Koma. Sie hat Erinnerungen aus dieser Zeit, die sie noch verarbeiten muss.
  • Maybach hatte einen Fahrradunfall. Ein Autofahrer öffnete direkt vor ihr die Tür.

Von Dietrich Mittler, Landshut

Es gibt Bilder, die gehen Miriam Maybach nicht mehr aus dem Kopf. Es ist fast so, als würde da ein Film ablaufen. Sie sieht, wie sie der Sohn einer ihr bekannten Hausärztin von der Aufwachstation abholt und im Krankenbett wegschiebt. "Das ging dann in eine Tiefgarage, immer tiefer und tiefer. Und da wurde ich abgestellt", sagt sie.

Diese Szene hat Miriam Maybach mit all ihren Sinnen durchlebt, als sie nach drei Wochen im Koma allmählich ins Bewusstsein zurückkehrte. Doch das, was sie da als real empfand, war nicht die Realität- weder die Tiefgarage noch jene Aufwachstation, auf der sie sich zuvor wähnte. "Ich sehe zwar genau den Teil des Gebäudes vor mir, aber diesen Teil gibt es gar nicht", sagt sie. Ihre Stimme wirkt irritiert. "Irgendwo muss dieses Bild ja entstanden sein", sagt sie leise. Nur wo? Und wann?

Der Autofahrer machte die Tür auf

Miriam Maybach, dieses Pseudonym nennt die 49-jährige Diplom-Psychologin jetzt anstelle ihres richtigen Namens, um nicht von wildfremden Menschen auf ihren Fall angesprochen zu werden - sie hat ihn ja selbst noch nicht verarbeitet. "Ich hatte ein ganz normales Leben vorher", sagt sie. Vorher, das war die Zeit vor dem Unfall. Am 25. März 2014 war die Familientherapeutin mittags nach Hause geradelt. Ihr Mann war zufällig da. Das Paar nahm gemeinsam ein paar Happen zu sich. Dann nach 20 Minuten wollte sie wieder zur Arbeit fahren, nur 800 Meter von ihrem Zuhause entfernt. Sie sah noch das Auto, das rechts am Fahrbahnrand parkte. "Dann machte der Fahrer die Tür auf - und Ende der Veranstaltung", sagt sie. Filmriss.

Was daraufhin geschah, hat sie später rekonstruiert. Eine Freundin, die gerade vorbeikam, habe sie bewusstlos am Boden liegen sehen. Dann sei alles ganz schnell gegangen. "Das Ganze ist 300 Meter von der Polizei entfernt passiert", sagt sie. Krankenwagen und Notarzt waren sofort da, das Rettungsteam brachte sie ins Klinikum Landshut. Später erst erfuhr Miriam Maybach, sie habe über Schmerzen am Oberschenkel geklagt. Am Kopf waren keine Wunden sichtbar, nicht einmal Kratzer.

Zu Beginn war sie noch wach

An diesem Tag hatte der Neurochirurg Steffen-Ulrich Pauli Dienst. Pauli, ein Mann mit rundem Gesicht und hellwachen Augen, ist kein Befürworter langer Schachtelsätze: "Ich habe die Patientin gesehen. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch wach. Gehirntrauma gehabt, kurze Bewusstlosigkeit. Ein bisschen ungeordnet. Aber wach."

Die Ergebnisse der Computertomografie mahnten zu erhöhter Aufmerksamkeit: leichte Gehirnschwellung. "Wir warten ab", entschied Pauli. Im Laufe des Nachmittags verschlechterte sich jedoch Miriam Maybachs Zustand. "Fragen konnte sie gerade noch mit ja oder nein beantworten", sagt Pauli. Er zögerte keine Sekunde mehr: "Wir mussten die Schädeldecke sofort öffnen, um weiteren Schaden am Gehirn zu verhindern." Für Oberarzt Steffen-Ulrich Pauli - er hat als Neurochirurg mittlerweile 20 Jahre Berufserfahrung - war das ein Routine-Eingriff.

Doch in diesem Fall war plötzlich alles anders: Miriam Maybach ist die Frau eines Kollegen. "Da denkt man schon: Hoffentlich geht das gut aus", sagt Pauli. Die Schädelöffnung an sich sei in der Regel gar nicht das Problem, sondern in welchem Zustand die Patienten in den OP gebracht werden. Wie stark ist ihr Schädel-Hirn-Trauma? Wie stark die Hirnschwellung? Gibt es zudem noch Einblutungen? Und: Ist die Hirnschwellung aufgrund der Verletzung vielleicht sogar beidseitig?

All das sind Fragen, die über Leben und Tod entscheiden. Oder darüber, ob schwere Behinderungen zurückbleiben. Klar helfe einem die Routine, sagt Pauli. Aber die Berufsjahre machen nicht gefühlskalt. Das Schlimmste sei, wenn einem Arzt unmittelbar während der Operation klar werde: Alles was du da machst, hilft nichts mehr. "Das ist emotional schwer erträglich", sagt Pauli.

Ihr Gehirn hat pulsiert - das ist ein gutes Zeichen

Miriam Maybach indes hatte Glück. Die OP erfolgte zur rechten Zeit. Schwillt das Gehirn unter der Schädeldecke an - etwa die Folge davon, dass nach einem heftigen Aufschlag aus den Blutgefäßen Wasser ins Hirngewebe dringt -, dann bleibt dem OP-Team nur noch kurze Zeit, den Druck im Schädel zu mindern, wie Dieter Woischneck, der Chefarzt der Neurochirurgie, erklärt. Ansonsten würden wichtige Gehirnteile nicht mehr durchblutet, der Hirnstamm werde eingedrückt - und das sei das Ende. Pulsiert indes das Gehirn, nachdem der Schädel großflächig geöffnet und die harte Hirnhaut aufgeklappt ist, dann sei das ein gutes Zeichen. "Bei Frau Maybach hat es noch pulsiert", sagt Pauli.

Vielfach, so betont Chefarzt Woischneck, erhöhe sich das Risiko für die Patienten dadurch, dass es zu Blutungen in der Gehirnsubstanz oder auch zwischen dem Schädelknochen und dem Gehirn komme. Zudem sei das Alter ein Risikofaktor. "Kinder und Menschen bis zu 30 Jahren haben gute Chancen, von einem bestimmten Alter an wird es schlechter", sagt Woischneck, der seine Liebe zur Neurochirurgie schon während des Studiums entdeckt hatte. Neben seiner Chefarzttätigkeit ist er an der Universität Ulm in der Lehre und der Forschung tätig.

"Vom wissenschaftlichen Schwerpunkt her sind halt Schädelhirnverletzungen so mein Thema", sagt der 56-Jährige jovial. Er werde oft auf den früheren Rennfahrer Michael Schumacher angesprochen, der aufgrund schwerer Kopfverletzungen ins Koma gefallen war. "Es gibt Dinge, die laufen schicksalhaft", sagt Woischneck. Im Fall Schumacher könnte es eine Rolle gespielt haben, dass er nicht gleich in ein neurochirurgisches Zentrum kam. "Bei Frau Maybach hätte es auch schlimmer laufen können, wäre sie nicht sofort zu uns gekommen", sagt er.

"Ich bin verletzlicher geworden"

Miriam Maybachs Atem wird schwerer, wenn sie an die Wochen im Koma zurückdenkt. "Diese immense Ohnmacht", sagt sie, "und wenn ich mir vorstelle, wie meine Familie am Bett saß - nicht wissend, ob ich überhaupt noch mal aufwache." In einer zweiten Operation wurde bei ihr mit einem Kunststoff-Implantat das große Loch im Kopf mittlerweile wieder geschlossen. Als Andenken daran hat sie ein originalgetreues Modell ihres Schädels behalten dürfen. Vorsichtig hebt sie es hoch, blickt in die tiefen Augenhöhlen. "Ich bin verletzlicher geworden", sagt sie.

Miriam Maybach geht wieder voll zur Arbeit. Aber das Schädel-Hirn-Trauma und die lebensrettende OP sind nicht folgenlos geblieben: Kaum eine Nacht kann die 49-Jährige länger als viereinhalb Stunden schlafen, ihr einst so feiner Geruchssinn ist weg. Hinzu kommen permanente Kopfschmerzen. "Es gibt Momente, in denen ich das Gefühl habe, ich werde jetzt mürbe", sagt sie. Aber so verrückt es auch klinge: Der Unfall habe ihr das Leben gerettet. Bei den Untersuchungen wurde nämlich in ihrem Körper ein Tumor entdeckt. Er konnte rechtzeitig entfernt werden. "Es ist absolut nicht selbstverständlich, dass ich jetzt wieder da bin", sagt sie. Aber all das gilt es jetzt erst einmal zu verstehen.

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Quelle:
SZ vom 13.07.2015/axi
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