Leben auf der Alm:In Annis ferner Welt

Vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima hat sie erst Monate später erfahren. Ihre einzige Verbindung ins Tal sind Wanderer - und ein batteriebetriebenes Radio. Ein Besuch auf 1326 Metern: bei der Waller Anni, Sennerin auf der Himmelmoosalm und mit 66 Jahren etwas anderer Lebenserfahrung.

Ulrike Heidenreich

Es war irgendwann im Mai 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Da packte die Waller Anni ihre Sachen auf zwei Holzkarren, trieb die Kühe aus dem Stall und begann den steilen Anstieg auf die Himmelmoosalm. Seitdem sitzt sie den Sommer über dort oben, schaut hinüber auf den schneebedeckten Großglockner, und wenn das Abendrot wieder besonders schön ist, dann holt die Sennerin ihr Fernglas.

Leben auf der Alm: "Mir fehlt hier nichts, gar nichts." Seit 66 Jahren verbringt Anni Wallner jeden Sommer auf der Alm.

"Mir fehlt hier nichts, gar nichts." Seit 66 Jahren verbringt Anni Wallner jeden Sommer auf der Alm.

Für die meisten Menschen dürfte es ziemlich langweilig sein, 66 Jahre lang immer die gleichen Berge zu betrachten, doch die Waller Anni thront sozusagen über den Dingen - exakt auf 1326 Metern knapp unterhalb des Brünnstein-Gipfels. Sie dürfte eine der dienstältesten Sennerinnen in den Alpen sein - "fad", wie sie sagt, wurde ihr noch nie.

Das idyllische Bild von der Sennerin, die fern der Welt die Einsamkeit auf der Alm genießt, will nicht so ganz stimmen bei dieser Dame, die ziemlich genau Mitte 80 sein dürfte, ihr Alter aber auf gar keinen Fall sagen will. Die Waller Anni liebt ihren Logenplatz hoch über dem Inntal deshalb so sehr, weil hier ordentlich etwas los ist, jawohl. "Was soll ich unten im Tal mit den immer gleichen Leuten? Hier oben habe ich mehr Abwechslung. Nur wenn es regnet, bin ich einsam", sagt sie. Denn dann kommen keine Wanderer vorbei auf dem Steig, der vom Sudelfeld oder von Mühlau aus über die Himmelmoosalm führt.

Hört sie an Sonnentagen die dumpfen Schritte von Wanderstiefeln, schaut sie hinaus aus der Tür ihrer 350 Jahre alten Hütte, gibt Ratschläge für Touren, schenkt Quellwasser aus großen Kannen in die Plastikflaschen der Wanderer - und wer mag, bekommt bei ihr auch ein Bier oder ein Radler. Viele kommen an den Wochenenden hier hoch, weil es so schön ist auf der Himmelmoosalm. Rund um die Waller-Hütte blühen jetzt Knabenkraut, Waldhyazinthe, Bergbaldrian, Sonnenröschen und Arnika. In der Ferne ruht der Großvenediger, nah liegt der Wilde Kaiser.

Vor dieser majestätischen Aussicht hält die Sennerin Hof in dicken Strümpfen mit Zopfmuster, Blumenkittel und Bundhose - die Leute bleiben bei ihr auf der Bank hocken und ratschen. Die alte Dame ist dann sehr schlagfertig und, ja, ziemlich geschert auch. Manchmal, wenn ein Bergführer von unten aus Oberaudorf vorbeischaut, weiß die Waller Anni schon besser über die Neuigkeiten im Dorf Bescheid als er.

Vielleicht sind es diese Nachrichten, die sie jeden Sommer seit 66 Jahren auf einen sehr langen Sommer hoffen lassen - denn so kann sie länger auf ihrer Alm bleiben. "Unten ist es mir zu eng", sagt sie nach kurzem Nachdenken. An der Tür zur Schlafkammer in der malerischen Hütte hängt ein besticktes Tuch: "Mein Haus, mein Glück", und das ist es wohl auch für sie. "Das hier oben hat mich von Anfang an fasziniert", sagt die Waller Anni, die niemand hier im Mangfallgebirge Frau Waller nennt, und poliert unermüdlich eine Waschschüssel auf ihrem altertümlichen Herd. "Schon als ich als junge Frau mit 18 Jahren hier den ersten Sommer war, hat mir nichts gefehlt, gar nix", betont die alte Dame, die ihre grauen Haare in eine Dutt geschlungen hat. Und so wandert sie jahrein, jahraus immer in den letzten Maitagen hoch, und irgendwann im Oktober muss sie dann hinunter in eine Wohnung im Tal, in Schönau.

Ein batteriebetriebenes Radio ist auf der Himmelmoosalm ihr Draht zur irdischen Welt, und was sie da hört, findet sie einerseits recht amüsant, andererseits bestärkt es sie, dass sie "da unten" wenig verloren hat. Kichernd erzählt sie: "Am vergangenen Wochenende standen die Leut' fünf Stunden im Stau vor dem Tauerntunnel. Das ist doch der Wahnsinn." Und fügt leiser hinzu: "Ich hab hier oben nix damit zu tun mit diesem Irrsinn."

Die Waller Anni wurde als Anker Anne geboren in Mühlau, auf dem Waller-Hof. Sie hieß schon immer Waller Anni, weil in diesem Landstrich der Hofname mehr zählt als der Familienname. Der Zufall wollte es, dass sie dann später, sehr viel später, einen Mann heiratete, der Waller hieß - aber das ist eine andere Geschichte. Mit sechs Geschwistern wuchs sie auf, ein Bruder kam aus dem Krieg nicht zurück. Und als ihre Schwester, die zuvor ein paar Jahre lang im Sommer die Kühe auf der Alm des Wallerhofs versorgt hatte, wegheiratete in die Rosengasse auf dem Sudelfeld, ging die 18 Jahre alte Anni hoch mit etwa 20 Kühen.

Es war die Zeit, als der "alte Sachs", wie man ihn hier nennt, sich einige Zeit auf verschiedenen Höfen auf der Rechenau versteckte, bis ihn die US-Militärs fanden und verhafteten. Viele Höfe gehörten ihm hier, Hermann Göring war gerne gesehener Gast bei den Jagden des Industriellen Willy Sachs. "Er hatte so viel Geld, aber nach Kriegsende nix zu essen. Die Bauern haben ihm nichts gegeben, obwohl er sozial war und man nichts Schlechtes über ihn sagen konnte", empört sich die Waller Anni heute noch.

Ob der alte Sachs während seiner Fluchttage auch bei der jungen Frau auf der Himmelmoosalm anklopfte und dort wenigstens ein Brot bekommen hat, mag sie aber nicht sagen. Nur, dass sie vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima im August 1945 erst Monate später erfahren hatte, als sie mit ihren Kühen wieder ins Tal hinunterstieg.

Viele Jahre später rückten dann die Weltereignisse näher an die kleine Hütte. Konrad Adenauer wurde erster Bundeskanzler, der Mount Everest wurde zum ersten Mal bezwungen, Deutschland wurde 1954 Fußballweltmeister, Neil Armstrong betrat den Mond, Papst Johannes Paul I. starb nach nur 34 Tagen im Amt, in Tschernobyl explodierte ein Kernreaktor. Die Waller Anni saß immer abends um acht, kurz bevor sie ins Bett ging, vor ihrem Radio und bebte mit.

Ein gebrochener Knöchel

Früher war auf jeder Alm jemand, und wir konnten uns besuchen",sagt die alte Sennerin. "Jetzt sind die meisten Hütten verlassen, eine Schande!" Gestern hat ihr die Nachbarin von der Karrer-Alm einen Schweinsbraten vorbeigebracht, aber das ist die Ausnahme. "Die jungen, neuen Senner bleiben hier nur kurz, vielleicht zwei Jahre, manche halten es schon nach drei Wochen nicht mehr aus", erzählt sie. "Die wollen immer schauen, was unten los ist, aber so funktioniert das Leben auf der Alm halt ned." Die Waller Anni hat nun seit elf Jahren auch keine Kühe mehr: "Unten auf dem Hof ist kein Mann mehr, darum haben wir es aufgegeben."

Leben auf der Alm: Jedes Jahr hofft Anni Wallner auf einen langen Sommer. Dass es auf 1326 Metern weder warmes Wasser noch Strom gibt, stört sie nicht.

Jedes Jahr hofft Anni Wallner auf einen langen Sommer. Dass es auf 1326 Metern weder warmes Wasser noch Strom gibt, stört sie nicht.

Trotzdem zieht es sie sommers weiter hoch: "Es ist halt Gewohnheit, und hier ist es schön." Inzwischen wird die alte Dame mit einem Allradwagen gefahren, das Nötigste für drei, vier Monate im Laderaum. Mehl, Zucker und ein paar hundert Eier etwa, die die Waller Anni im leeren Kuhstall in Plastikkübeln aufbewahrt. "Ich lege die Eier in gelöschten Kalk und gieße Wasser darauf, sie halten so ein ganzes Jahr." Hühner hier oben zu haben, wäre ein kurzes Vergnügen, denn da käme ja der Fuchs. Neulich erst, als wieder das Abendrot so schön über dem Großvenediger-Massiv stand, schaute er zur Tür hinein. "Am nächsten Tag kam er wieder und zeigte mir seine drei Jungen, die haben ausgeschaut wie dicke Katzen", freut sich die Sennerin.

Einmal war die Waller Anni auch verheiratet, gut 50 Jahre alt muss sie gewesen sei, als sie dem Waller Hans aus Schönau das Ja-Wort gab. "Er war Harfenspieler und Sänger, am Wochenende ist er zu mir hochgekommen und hat mit dem Wirt vom nahen Brünnsteinhaus gesungen", erzählt sie. Von ihm hat sie eine kleine Rente und die Wohnung geerbt, in der sie nun im Winter lebt.

Seit 17 Jahren ist der Herr Waller tot. Viel mag die Sennerin nicht erzählen von ihm, außer dass sie auch während ihrer Ehe immer auf der Alm war. Ein Foto von ihm hängt nirgendwo in der penibel aufgeräumten Hütte mit den handgehackten Türstöcken. Nur zwei ihrer Brüder schauen aus Rahmen an den von offenem Feuer geschwärzten Holzwänden heraus. "Mei, des waren lustige Kerle", sagt sie.

Im vergangenen Sommer ist der alten Frau ein Unglück passiert. Sie rutschte vor der Hütte aus. "Dick hab ich Topfen über den Knöchel geschlagen und Arnika draufgewickelt, aber es wurde nicht besser." Drei Wochen lang ging das so, bis einmal die Nichte vorbeischaute, die Ärztin ist. Der Knöchel war gebrochen. Die Waller Anni musste zum Arzt ins Tal und konnte ihre Rückkehr auf die Alm kaum erwarten. Die Nichte gab ihr auch ein Handy, das die Sennerin tatsächlich manchmal anschaltet.

Um den 25. Juli herum wird sie jedes Jahr ein wenig melancholisch. "Dann ist Halbzeit, Jacobi, und die Tage werden kürzer." Sie denkt dann kurz darüber nach, ob sie wohl im kommenden Sommer wieder hier oben sein wird, und verscheucht den Gedanken gleich wieder. "Ich setze mich dann auf die Bank, hole mein Fernglas und schaue hinüber zum Wilden Kaiser. Da ist ja immer ganz schön viel los."

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