Süddeutsche Zeitung

Lawinenunglück im Himalaya:Zeugen des Schreckens

Mindestens acht Menschen sind bei einem der größten Lawinenunglücke in der Geschichte des Himalaya-Bergsteigens am Manaslu gestorben. Auch die Münchner Speedbergsteiger Sebastian Haag und Benedikt Böhm waren zu diesem Zeitpunkt an dem Achttausender - und haben überlebt.

Birgit Lutz

Es ist eines jener Unglücke, von denen man weiß, dass sie geschehen können, an den hohen Bergen. Das gehört dazu, dort oben. Und alle, die dort unterwegs sind, wissen es. Wenn es dann tatsächlich passiert, ist es dennoch entsetzlich. Und dieses Entsetzen steht denjenigen, die davon gekommen sind, noch Tage später ins Gesicht geschrieben. So auch den Münchner Speedbergsteigern Sebastian Haag, 33, und Benedikt Böhm, 35, die sich mit einer kurzen Videosequenz aus dem Unglücksgebiet im Himalaya gemeldet haben. Sehr erschöpft sehen sie aus.

Am vergangenen Sonntag ist eine Lawine am Manaslu abgegangen, im nepalesischen Gurka-Himal. Der Manaslu ist mit 8163 Metern der achthöchste Berg der Welt, es ist nichts besonderes, dass dort Lawinen abgehen, der Manaslu gilt genau deshalb als schwieriger Berg. Für die meisten der Everest-Aspiranten ist der Manaslu zu anspruchsvoll.

Das besondere an der Lawine am vergangenen Sonntag ist, dass sie das Camp 3 auf 6800 Metern unter sich begräbt. Morgens um halb fünf, es ist noch dunkel, bricht aus dem Gipfelgrat des Vorgipfels des Manaslu ein riesiger Eisblock ab. Er fällt auf die weite Schneefläche des darunter liegenden Plateaus und löst dort eine gewaltige Lawine aus. Die Schneemassen, man kann es so dramatisch sagen, walzen das Camp nieder, schieben die kleinen Zelte vor sich her, mehrere hundert Meter weit, manche gehen in den Schneeblöcken unter.

Das besondere an dieser Lawine ist auch, dass sie ausgerechnet zu einem Zeitpunkt niedergeht, an dem sich viel mehr Bergsteiger als sonst am Berg aufhalten. Viele der Alpinisten wollten eigentlich den von Tibet aus zu erreichenden Cho Oyu (8188 Meter) besteigen. Weil ihnen von China die Einreise verweigert wurde, entschieden sich mehrere Teams um und wandten sich dem Manaslu zu. 30 Expeditionen sind unterwegs, das sind doppelt so viele wie im Vorjahr.

Darunter auch die beiden Münchner Sebastian Haag und Benedikt Böhm, gemeinsam mit ihrem Teampartner Greg Hill. Die drei gehören zu der weltweit sehr übersichtlichen Gemeinde an Höhenbergsteigern, die mit Skiern von Achttausendern abfahren. Böhm, Geschäftsführer eines in Aschheim ansässigen Sportartikelherstellers, und der Veterinär Haag sind ein eingespieltes Team; seit ihrer Jugend sind sie zusammen an den hohen Bergen unterwegs.

Doch in den vergangenen Jahren ist das Glück nicht immer auf der Seite der beiden versierten Alpinisten gewesen, die als Trainingseinheit auch den Mont Blanc an einem Tag besteigen. Sie kennen den Manaslu und seine Besonderheiten; 2007 mussten sie eine Speedbegehung dort wegen zu starker Schneefälle aufgeben. 2009 kam es im Verlauf der Besteigung des 8051 Meter hohen Broad Peak beinahe zu einer Katastrophe, als sich Haag vollkommen verausgabte und nicht mehr aus eigener Kraft absteigen konnte. Damals kam die Südtiroler Bergsteigerin Cristina Castagna, eine Freundin der beiden, ums Leben. Eine schwere Zerreißprobe war diese Besteigung für die Seilschaft Böhm/Haag, aber auch für die Vertrauensbasis der Freundschaft der beiden Männer. Ihre Erfahrungen haben sie erst kürzlich in dem Film "Freundschaft auf Zeit" verarbeitet.

Bei der für diese Saison geplanten Expedition zum Cho Oyu sind die beiden, verstärkt um den Kanadier Greg Hill, nun erstmals wieder gemeinsam an einem hohen Berg unterwegs. Als erste Schwierigkeit tauchen diesmal die nicht zu überwindenden bürokratischen Hindernisse an der tibetischen Grenze auf. Die Entscheidung, eine erneute Speedbegehung des Manaslu zu versuchen, fällt mit gemischten Gefühlen, denn der Berg gilt auch als schwieriger als der Cho Oyu, und die zu bewältigende Strecke ist deutlich länger. Noch am vergangenen Freitag berichtet das Team von ersten erfolgreichen Akklimatisierungsaufstiegen. Aber auch davon, dass sie nun, wie 2007, bei heftigem Schneefall im Basislager sitzen.

Als zwei Tage später die Lawine niedergeht, morgens um halb fünf, liegen die Camps am Berg in tiefem Schlaf. Camp 3 wird zerstört, die Druckwelle trifft auch das Camp 2 auf 6200 Metern. Haag, Böhm und Hill haben Glück: Ihre Zelte stehen in keinem der beiden Camps, sondern abseits des Kegels. Die Druckwelle spüren sie dennoch deutlich. Nachdem sich der Lärm der Lawine gelegt hat, hören sie Hilfeschreie aus dem Dunkel, und langsam wird ihnen klar, dass etwas größeres passiert sein muss, erzählt Haag. Sie machen sich auf den Weg, finden die zwölf Zelte des Camp 2 verwüstet vor. Die geschockten Bergsteiger dort sammeln ihre verstreute Ausrüstung zusammen, versuchen, sich anzuziehen.

Haag und Böhm steigen weiter auf und sind die ersten, die an dem immensen Lawinenfeld ankommen, in dessen Mitte einmal Camp 3 mit 25 Zelten stand. Es ist nichts mehr davon übrig. "Man muss sich vorstellen", sagt Haag, "die Menschen sind in ihren Schlafsäcken überrascht worden. Das heißt, sie sind mitsamt Zelten einfach runtergeräumt worden." Manche habe es dabei aus den Zelten herausgespült. "Die saßen dann da, ohne Schuhe, teilweise hatten sie nur ihre Skiunterwäsche an, waren völlig verzweifelt." Viele der Bergsteiger haben mit angeschnallten Lawinensuchgeräten geschlafen. Haag, Böhm und Hill machen sich auf die Suche, fangen an zu graben. Dafür allerdings ist nicht viel Zeit. Nach etwa 15 Minuten unter einer dichten Schneedecke sind durchschnittlich 90 Prozent der Lawinenverschütteten tot.

"Wir haben so viele wie möglich ausgebuddelt"

Als einen der ersten finden sie den amerikanischen Bergsteiger Glen Plake, den es in eine Gletscherspalte gespült hat. Haags Stimme kling gepresst, als er sagt, "wir haben so viele wie möglich ausgebuddelt. Aber natürlich auch viele Tote ausgegraben." Darunter ein 42-Jähriger aus Dingolfing, der mit einer kommerziellen Expedition des deutschen Veranstalters Amical Alpin unterwegs war. Drei weitere Münchner halten sich zum Zeitpunkt des Unglücks am Manaslu auf, ein 40-Jähriger überlebt mit Erfrierungen, ein 26-Jähriger mit Verletzungen an der Wirbelsäule, ein 52-Jähriger blieb unversehrt im Basislager.

Am Tag nach dem Unglück sind acht Menschen tot geborgen, drei werden noch vermisst. Es ist jedoch, in allem Unglück, ein Glück, dass das Wetter an diesem Tag gut ist. In der bald aufgehenden Sonne können sich die Bergsteiger, die ohne Ausrüstung überlebt haben, zumindest aufwärmen. "Viele hatten mittlerweile schwere Erfrierungen", sagt Benedikt Böhm. Auch er sieht mitgenommen aus, wie er im Basislager in einem Zelt sitzt und erzählt. "Und ein noch größeres Glück war es, dass Hubschrauber fliegen konnten", sagt er. "Wenn das nicht gegangen wäre, dann hätten die vielen Schwerverletzten keine Chance gehabt, den Berg herunter zu kommen." Wie es ihnen selbst geht, vermag er nicht zu beschreiben. "In dem Moment agiert man nur, man handelt instinktiv, hilft", sagt er. "Die Bilder kommen eigentlich erst jetzt." Seine Gedanken seien bei den Verletzten, und den Angehörigen der Verunglückten, denen er viel Kraft wünsche.

Haag, Böhm und Hill bleiben wie geplant bis Ende der Woche in Nepal und helfen noch weiterhin. Dass sie ihre Besteigung noch wagen, ist unwahrscheinlich.

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SZ vom 27.09.2012/webj
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