Niederbayern:Das Stigma der Vergangenheit

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  • Noch immer ist Niederbayern als bayerisches Armenhaus verschrien. Doch was in den Fünziger- und Sechzigerjahren noch zugetroffen hat, ist längst nicht mehr so.
  • Niederbayern wandelte sich immer mehr zum Vorzeige-Landstrich und zur Wohlstandsregion.

Von Hans Kratzer, Landshut

Vor wenigen Jahren hieß es, die Stadt Landshut werde die 68 000-Einwohnermarke erst 2030 knacken. Nun hat sie dieses Ziel im März 2015 erreicht. Im kommenden Jahr wird es vermutlich bereits 70 000 Landshuter geben. Dieser rasante Zuwachs ist eine Folge der blühenden Wirtschaft und der verkehrsgünstigen Lage, in direkter Nachbarschaft liegt der Münchner Flughafen.

Aber nicht nur Landshut, ganz Niederbayern ist zur Aufsteigerregion geworden, wie der CSU-Politiker Erwin Huber dieses Phänomen gerne benennt. Hier melden die Ämter eine der geringsten Arbeitslosenquoten in Deutschland. Ausgerechnet in Niederbayern, das noch in den Fünfzigerjahren als das Armenhaus des Freistaats verschrien war.

Armenhaus Niederbayern

Und doch geistern wie eh und je Sprüche herum, welche die längst überwundene Not ins Gedächtnis rufen. Im Bayerischen Wald gibt's dreierlei Sorten Mensch, heißt es da: Arme, Bettler und solche, die gar nichts haben. Not und Elend herrschten aber nur in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Es war die Zeit, in der ein Abendessen aus saurer Suppe die Normalität war. Der CSU-Abgeordnete Wolfgang Prechtl hat damals den Terminus vom Armenhaus Niederbayern geprägt.

Jahrzehnte später stellte sich die Situation anders dar. Die Wirtschaftszeitschrift brand.eins feierte Niederbayern 2008 als Vorzeige-Landstrich und Wohlstandsregion. Die tief greifenden Veränderungen im Niederbayern der Nachkriegszeit haben den Landshuter Kreisheimatpfleger Stefan Rieder schon früh in den Bann gezogen. Nun hat er dieses Phänomen wissenschaftlich analysiert. "Als Jahrgang 1986 in einer ländlichen, aber dennoch modernen Gesellschaft aufgewachsen, hatte es für mich immer etwas Faszinierendes, meinen Eltern, Onkeln und Tanten bei ihren Erzählungen über längst vergangene Zeiten zuzuhören. Mir schienen die Berichte von Kriegsheimkehrern und Heimatvertriebenen, von endlos langen Schulwegen und Kirchgängen, von harter Feldarbeit und tiefer Religiosität wie aus einer anderen Welt entnommen", schreibt er in seiner an der Münchner Universität erarbeiteten Monografie. Darin schildert Rieder den Wandel vom katholisch-konservativen Bauernland zum pluralen Wissenschafts- und Industriestandort.

"Wenn BMW hustet, ist Niederbayern krank", lautet ein Spruch, der schon oft in der SZ stand. BMW hat Dingolfing und der Region Wachstum beschert. (Foto: Bloomberg)

Seine Analyse greift auch die Veränderung des Heimatverständnisses auf, die durch die Integration von 260 000 Vertriebenen und Flüchtlingen (Stand Oktober 1946) eingeleitet wurde. Die Neubürger machten fast 25 Prozent der niederbayerischen Bevölkerung aus.

BMW als entscheidender Wirtschaftsfaktor

Die brachialen Veränderungen bringt ein von Rieder vorangestelltes Zitat von Walter Eucken auf den Punkt. Eucken, einer der geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft, sagte 1952, die Umwelten Goethes und Platons seien einander ähnlicher gewesen als die Umwelten Goethes und eines heute lebenden Menschen.

Als eine der wichtigsten Entscheidungen für den wirtschaftlichen Aufschwung Niederbayerns bezeichnet Rieder den Ausbau des BMW-Werks in Dingolfing in den Siebzigerjahren, heute arbeiten dort 17 500 Beschäftigte. Ein Wermutstropfen ist allerdings die Abhängigkeit der Region von der Automobilbranche in wirtschaftlich schwachen Perioden. "Wenn BMW hustet, ist Niederbayern krank", ist ein Spruch, der zurzeit niemanden schreckt, aber ständig präsent ist.

Der Wandel brachte den ersehnten Wohlstand, vereinzelt aber auch ein Missbehagen mit sich. Der prägende bäuerliche Charakter der Dörfer ging verloren. Rieder beschreibt die Spannungen am Beispiel des Streits der Fortschrittsgläubigen und jener alternativ-konservativen Gruppierungen, die in Autobahnen, Donauausbau und Intensivlandwirtschaft eine Bedrohung der Heimat sehen. Der Dichter Harald Grill fasste deren Sorgen schon früh in Verse ("s handwerk hot an goldan boon / d landwirtschaft hot an vagiftn")

Eine rosige Zukunft für Niederbayern

Ein Streitpunkt in der Deutung des Strukturwandels blieb das bäuerliche Erbe. Während die einen die gute alte Zeit stilisierten, stellten Kritiker die Härten des ländlichen Lebens heraus. Die Bäuerin Anna Wimschneider wurde mit ihrer Autobiografie "Herbstmilch" zur Symbolfigur für jene, die eine realistische Auseinandersetzung mit der bäuerlichen Vergangenheit wollten.

Rieders Untersuchung endet mit dem Hinweis auf das Zukunftsgutachten der Staatsregierung von 2011, das Niederbayern keine rosige Zukunft prognostiziert. Rieder bilanziert, es wäre nicht die erste Prognose, die von den Menschen in Niederbayern widerlegt würde.

Stefan Rieder: Vom Armenhaus zur Aufsteigerregion. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturwandel in Niederbayern und dessen kulturelle Deutung (1949-2008), edition vulpes, 2015, 16 Euro.

© SZ vom 04.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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