Der Ironie des Lebens begegnet man in der Oberpfalz am Straßenrand. Am Ortseingang von Neuenhammer grinst Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dem Besucher von einem Wahlplakat entgegen und hält, umringt von einer Schar junger Menschen, ein Smartphone in der Hand. "Modernes Leben - Schnelles Internet und Mobilfunk für jeden" verspricht er.
Schnelles Internet? In der Gemeinde Georgenberg, zu der Neuenhammer gehört, wären sie schon froh, wenn das Internet überhaupt in jedem Haushalt zuverlässig funktionieren würde. Tut es aber nicht.
Georgenberg liegt an der tschechischen Grenze in einer Gegend Bayerns, in die sich nicht viele Besucher ohne Grund verirren. Knapp 15 Kilometer sind es über kurvige, enge Straßen bis zur Autobahn, 25 Kilometer bis nach Weiden, der nächstgelegenen Stadt, die einen solchen Namen verdient hat. Die Gemeinde ist umgeben von sanften Hügelketten, Wäldern und grünen Wiesen. Durch das Tal mäandert der Zottbach, in kleinen Teichen schwimmen Forellen, und Wanderwege führen an alten Mühlen vorbei bis über die Grenze. Wer dort einkehrt, zahlt für das Stück Kuchen 1,50 Euro, die Halbe Bier kostet zwei Euro.
Und doch: Für Einwohner hat die Idylle ihren Reiz verloren. Den Tante-Emma-Laden von einst gibt es nicht mehr, die letzte Bankfiliale wurde vor zwei Jahren geschlossen, einen Bäcker, Metzger, eine Apotheke oder einen Hausarzt sucht man hier vergebens. Die Wirtschaft beim Rathaus hat vor kurzem dicht gemacht, weil es keinen Nachfolger gab. Eine Grundschule gibt es noch, aber nur noch mit zwei jahrgangskombinierten Klassen.
Rita Voit wohnt seit 32 Jahren im Gemeindeteil Hinterbrünst, das liegt noch einmal ein Stück hinter dem Hauptort. Sie mag das Leben auf dem Land, vor allem die Stille, die Natur. Die 56-Jährige hat eine Menge auf sich genommen, um hier wohnen bleiben zu können. Jahrelang pendelte sie zwei- bis dreimal pro Woche zu ihrem Arbeitsgeber, dem Versorgungsamt, nach Nürnberg, 135 Kilometer pro Strecke, zwei Stunden einfach teils mit Auto, teils mit Zug. Die restlichen Tage in der Woche arbeitete sie von zu Hause aus. Ob sie darüber nachgedacht hat wegzuziehen? Nein, sagt sie. Ihr Mann, ein gebürtiger Georgenberger, habe nie vom Land wegwollen, "und ich eigentlich auch nicht".
Wäre da nicht die Landflucht der Anderen. Seit 15 Jahren spürt Rita Voit einen Abwärtstrend, "man sieht, dass die Gemeinde ausstirbt". Die Arbeitsplätze in der 1300 Einwohner großen Gemeinde werden immer weniger, junge Menschen wollen weg. Auch Voits 31-jährige Tochter und ihren 26-jährigen Sohn hat es nach Nürnberg und München gezogen. Ihre Tochter könne sich vorstellen, wieder auf dem Land zu wohnen, "aber nicht mehr so ländlich". Jede noch so kleine Erledigung muss mit dem Auto gemacht werden. Unter der Woche gibt es drei Busverbindungen nach Vohenstrauß, eine Stadt mit etwas mehr als 7000 Einwohnern, und drei nach Weiden. Einen Zug gibt es nicht.
Es ist bei weitem nicht die einzige Gegend in Bayern, die von Landflucht betroffen ist. Vor allem dem Nordosten des Freistaats werden erhebliche Bevölkerungsrückgänge prognostiziert, Wunsiedel zum Beispiel. Dort rechnet das Landesamt für Statistik bis 2036 mit 15,3 Prozent weniger Bewohnern, knapp jeder Siebte wird den Landkreis also verlassen. Im Kreis Neustadt an der Waldnaab, zu dem Georgenberg gehört, rechnet man im selben Zeitraum mit einer Abnahme von 7,4 Prozent. Dort stehen schon jetzt einzelne Häuser leer und verfallen.
Was muss passieren, um diese Entwicklung zu stoppen? In den Programmen zur Landtagswahl spielt die ländliche Entwicklung eine wichtige Rolle, einige Parteien widmen dem Thema ein eigenes Kapitel. Die Rede ist davon, durch eine Quote oder Prämie mehr Landärzte anzuwerben oder kleine Krankenhäuser und Geburtsstationen zu erhalten. Der öffentliche Nahverkehr soll ausgebaut, Unternehmen finanziell gefördert werden, wenn sie ihre Arbeitsplätze in der Region belassen oder ihren Sitz dorthin verlagern, es werden Konzepte und Sonderprogramme zur Dorfentwicklung vorgeschlagen, die die Einrichtung von Dorfläden unterstützen oder gegen Leerstände vorgehen sollen. Schnelles Internet und flächendeckender Mobilfunk steht auch in jedem Parteiprogramm.
Würde das alles helfen? Rita Voit zuckt mit den Schultern. Ja, der öffentliche Nahverkehr sei schlecht, sagt sie. Aber würden mehr Busse überhaupt angenommen werden, würden sie nicht größtenteils leer herumfahren? Fahrdienste, sagt sie dann, das wäre wohl die bessere Lösung. Eine Einkaufsmöglichkeit wünscht sie sich, am besten einen mobilen Dorfladen, der ein-, zweimal die Woche die weitläufigen Ortsteile abklappert. Und natürlich ist ihr das Thema Internet und Mobilfunk wichtig. Hätte sie, wie mancher im Ort, kein stabiles Netz in ihrem Haus, sie könnte nicht von zu Hause aus arbeiten, wie sie es seit Jahren macht.
Aber reichen eine Einkaufsmöglichkeit, eine bessere Verkehrsanbindung und stabiles Internet, um die Gemeinde für Jüngere attraktiv zu machen? Das glaubt selbst Rita Voit nicht. In Georgenberg warten nicht die großen Freizeitangebote. Es gibt einen Fußballverein, ein Naturfreibad, einen Reiterhof, man kann wandern gehen, aber sich spontan mit Freunden auf ein Eis treffen geht schon nicht mehr - es gibt keine Eisdiele. Und wer ins Kino gehen will, muss die 25 Kilometer nach Weiden fahren. "Die jungen Leute bleiben lieber gleich da, wo etwas los ist", vermutet Rita Voit.
Brauchen Orte eine gewisse Größe, um Bewohner auch künftig anzuziehen? Die Entwicklung einiger kleiner und mittelgroßer Städten in Bayern wie Deggendorf, Rosenheim oder Landsberg legen diesen Schluss nahe. Hier wachsen die Einwohnerzahlen, die Menschen schätzen die Ruhe und die niedrigeren Preise im Vergleich zur Großstadt, aber auch das kulturelle Angebot und die größere Anonymität im Vergleich zum Dorf.
Der schönste Ort ist aber nur die Hälfte wert, wenn es keine Arbeitsplätze gibt. Im Fall Georgenberg ein schwieriges Thema. Die Abgelegenheit macht den Ort auch für Firmen nicht unbedingt attraktiv. Erst vor ein paar Monaten zog ein Unternehmen weg, um näher an der Autobahn zu sein. Für Rita Voit, die jahrelang nach Nürnberg gependelt ist, hat sich die Arbeitssituation durch eine politische Entscheidung verbessert: Ihr Arbeitgeber, das einst als Versorgungsamt firmierende Zentrum Bayern Familien und Soziales (ZBFS), hat im Zuge der Behördenverlagerung vor eineinhalb Jahren eine Außenstelle in Kemnath im Landkreis Tirschenreuth erhalten. Das bedeutet für die Georgenbergerin: nur noch 60 Kilometer pendeln statt 135, immerhin.
Kemnath besticht auch nicht durch seine zentrale Verkehrslage. Zur nächsten Autobahn sind es gut 25 Kilometer, der Bahnhof liegt vier Kilometer außerhalb. Aber es ist ein hübsches Städtchen, 5400 Menschen leben hier, der größte Arbeitgeber ist die Firma Siemens. Der Stadtplatz wird von bunten Häusern eingerahmt, es gibt kleine Läden. Eisdiele, Bäckerei und Zoigl-Wirtschaft haben Tische im Freien aufgebaut, ein Brunnen plätschert, und wenn man Glück hat, sieht man einen Storch über dem Ort kreisen. Ein Paar hat sich auf dem Dach des dem markantesten Gebäudes am Stadtplatz mit dem Viereck-Türmchen niedergelassen. Es ist das Haus von Voits neuer Dienststelle.
Um die ländlichen Regionen zu stärken, hat Markus Söder 2015 noch in seiner Zeit als Heimatminister Behörden verlagert. Mehr als 50 Ämter mit mehr als 3000 Angestellten mussten umziehen oder bekamen eine Außenstelle. Das Zentrum Bayern Familie und Soziales etwa erhielt neben Kemnath mit Schwandorf eine weitere Außenstelle in der Oberpfalz, außerdem sind 20 Beschäftigte in den Landkreis Donau-Ries ins Amt für Maßregelvollzug gekommen. Die Ankündigung traf die Behörden ziemlich unerwartet, aber schnell fanden sich im Fall des ZBFS Mitarbeiter in Bayreuth und Nürnberg, die nach Kemnath umziehen wollten. 20 sollten es sein, inzwischen sind es sogar 23. Für sie alle bedeutet Kemnath deutlich weniger Pendelei.
Zurück in Georgenberg. Rita Voit steht an einem ihrer Lieblingsplätze, von Oberrehberg hat sie einen wunderbaren Blick auf die Umgebung. Bevor die Kinder kamen, wohnte sie sieben Jahre lang in München. Bereut hat sie ihren Wegzug nie: "Ab und zu brauche ich die Stadt schon, aber ich bin auch froh, wenn ich dann wieder meine Ruh' hab." Nun zu sehen, wie die Gemeinde langsam ausblutet, "das macht mich traurig". Und sie sorgt sich darum, im Alter einmal abgehängt zu sein. Momentan sei sie ja noch mobil, aber "wenn ich mal nicht mehr Autofahren kann, wird es schwierig". Rita Voit macht eine kurze Pause. Dann sagt sie: "Wenn das so weitergeht, glaube ich nicht, dass ich für immer hier bleibe."