KZ-Gedenkstätte:Schweigen, lügen, verdrängen

Lange Jahre haben Dachau und Flossenbürg versucht, ihre Vergangenheit als KZ-Standorte auszublenden - in der Oberpfalz wird dies jetzt in einer provozierenden Ausstellung dokumentiert.

Helmut Zeller

So eine Aussicht hat nicht jeder. Vom Balkon seines Hauses in der Egerländerstraße überblickt Alois Sailer den ganzen Appellplatz. Drüben, auf der Südseite, steht noch ein Teil der Mauer des Gefängnishofs, in dem Pastor Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 von der SS hingerichtet wurde. 1964 zog Sailer mit Kind und Frau, einer Vertriebenen aus Böhmen, in die neue Siedlung auf dem Gelände des ehemaligen KZ Flossenbürg.

KZ Flossenbürg

Ein ehemaliger Wachturm des Konzentrationslagers in Flossenbürg. Am Sonntag wird in der Oberpfälzer KZ-Gedenkstätte eine neue Dauerausstellung zur neueren Geschichte des früheren Nazilagers eröffnet.

(Foto: dpa)

Auf dem Berg dahinter sollte eine Skisprungschanze gebaut werden. Aber der Freistaat, sonst gar nicht zimperlich im Umgang mit KZ-Relikten, hatte "aus Gründen der Pietät" - tatsächlich aber eher aus Angst vor einem Skandal - das Projekt gestoppt. Schließlich wären die Skispringer unten im "Tal des Todes", direkt neben dem Krematorium, gelandet. Irgendwie unpassend, wie die Wohnsiedlung. Obwohl, wie der 70-jährige Sailer sagt, man sich ja an alles gewöhnt.

In dem KZ und seinen 90 Außenlagern, die sich bis nach Dresden erstreckten, waren zwischen 1938 und 1945 etwa 100000 Menschen gefangen. Mindestens 30 000 dieser Zwangsarbeiter im Steinbruch und in Rüstungsbetrieben starben. Nach 1945 wollte nicht nur in Flossenbürg, dem 1700-Einwohner-Ort in der Oberpfalz, niemand an die Naziverbrechen erinnert werden. In Dachau, dessen Name weltweit für den KZ-Terror steht, propagierte der frühere Oberbürgermeister Lorenz Reitmeier das "andere Dachau" der Künstlerkolonie um die Wende zum 19. Jahrhundert. Immer wieder betonte er, dass das KZ gar nicht in Dachau, sondern auf dem Gebiet der angrenzenden Gemeinde Prittlbach gewesen sei.

Das abgelegene Flossenbürg an der Grenze zu Tschechien ging da gleich einen offensiveren Weg der Verdrängung. Jetzt aber fällt die Geschichte auf den Ort zurück. Die neue Ausstellung "Was bleibt - Nachwirkungen des Konzentrationslagers Flossenbürg" (Eröffnung am 10. Oktober) an der Gedenkstätte zeigt, wie die Gemeinde mit Unterstützung staatlicher Behörden die Geschichte unter Eigenheimen und Industriebetrieben begraben hat.

Wie Dachau präsentierte sich Flossenbürg als Opfer, das durch das KZ einen "moralischen und materiellen Schaden" erlitten habe. So steht es in einer Denkschrift von Juli 1953, die die Kommunalpolitik bis heute geprägt hat. Historiker sprechen von "Entlastungsnarrativen". Weniger wissenschaftlich ausgedrückt könnte man auch sagen: Es wurde geschwiegen oder gar gelogen, was das Zeug hielt. Oder man ist, wie der Flossenbürger Bürgermeister Wilhelm Högen (SPD), gleich handgreiflich geworden. 1965 fuhr der Kommunalpolitiker mit seinem Traktor auf das KZ-Gelände und riss die Gefängnisbaracken ab. So viel Einsatz für die Vergangenheitsbewältigung ließ Högen sich aber bezahlen - mit 125 Mark aus der Gemeindekasse.

Beitrag zugunsten der Menschlichkeit

Unfreiwillig kabarettistisch trat da sein Nachfolger Johann Werner (CSU) 1995 zur Einweihung des jüdischen Mahnmals auf: Flossenbürg habe in den zurückliegenden 50 Jahren mit seiner Einstellung zur NS-Geschichte einen Beitrag zugunsten der Menschlichkeit geleistet, meinte er.

Besucher betrachtet Schautafel in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg

Ein Besucher betrachtet in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg eine Schautafel. Nach dem Krieg nutzte die Gemeinde das Lager für Betriebsansiedlungen.

(Foto: DPA-SZ)

Über die Wohnsiedlung lässt der heute 71-Jährige, inzwischen Altbürgermeister und Vorsitzender des Fördervereins der Gedenkstätte, nichts kommen. "Klare Antwort", sagt Werner, "die Geschichte ist nicht stehengeblieben." Außerdem war das Lager mit den Häftlingsbaracken das einzige bereits erschlossene Bauland. Ihren wirtschaftlichen Aufschwung verdankt die Grenzlandgemeinde eigentlich dem KZ. Industriefirmen wurden von den Hinterlassenschaften des Messerschmidt-Rüstungsbetriebs angelockt, die gewerkschaftseigene "Neue Wirtschaft" übernahm den SS-Steinbruch, und in der früheren Häftlingswäscherei und Lagerküche am Appellplatz produzierten Firmen Möbel und Autozubehör.

Heute würdigt Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) die Gemeinde und den Förderverein in einem etwas missglückten Sprachbild als "Fackelträger der Demokratie". Flossenbürg braucht zwar alles andere als Fackelaufmärsche, aber das hat Spaenle auch nicht gemeint. Die CSU will sich nur die Geschichte ein bisschen zurechtbiegen. Vor zwei Wochen würdigte Dachaus Oberbürgermeister Peter Bürgel (CSU) den früheren Dachauer OB Lorenz Reitmeier, der einst gegen eine Jugendbegegnungsstätte in Dachau war, zum 80. Geburtstag als den Mann, der "eine erste wichtige Basis" für den Lern- und Erinnerungsort Dachau gelegt habe.

Der CSU-Landtagsabgeordnete Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, will Dachau und Flossenbürg zum "Weltgedenkerbe" erklären lassen. Die neuerdings große Begeisterung macht fast vergessen, dass die CSU im Bierzelt des Dachauer Volksfestes gegen eine Jugendbegegnungsstätte abstimmen ließ und noch in 1990er-Jahren erbittert gegen die Rekonstruktion des historischen KZ-Zugangs stritt.

In Dachau gibt es seit 1965 nur deshalb eine Gedenkstätte, weil ehemalige Häftlinge sie gegen alle Versuche zur Beseitigung der Lagerreste durchgesetzt haben. Mehr als 30 Jahre lang hat Barbara Distel, Leiterin der Gedenkstätte, das Vermächtnis der Häftlinge verteidigt. Nach ihrem Abschied 2008 wurde sie mit dem Ehrenring der Stadt ausgezeichnet. Bürgel und Werner sollen bald das Bundesverdienstkreuz erhalten - für ihr gedenkpolitisches Engagement. "Die Erinnerung kommt heute schon sehr glatt daher", sagt der Flossenbürger Gedenkstättenleiter Jörg Skriebeleit.

So viel Harmonie stimmt auch Johann Kick (SPD) nachdenklich. Seit 2002 ist der 46-Jährige der Bürgermeister in Flossenbürg, und er muss mit den Folgen der "Wiedergutmachungs"-Politik seiner Vorgänger klarkommen. In Kick hat Skriebeleit einen Partner gefunden, der Flossenbürg und die KZ-Gedenkstätte zusammenbringen will. Das Dorf sei gespalten, sagt eine Geschäftsfrau, die unerkannt bleiben will. Den Bewohnern des Ortsteils unterhalb der mittelalterlichen Burgruine sei die KZ-Gedenkstätte egal. Die etwa 300 Siedler am früheren Appellplatz aber fühlten sich ausgegrenzt. Besucher sollen ihnen schon mal den Vogel gezeigt haben, wenn sie auf der Sudetenstraße durch die Gedenkstätte zu ihren Häusern fahren. Unpassend ist die Straße schon. Aber Skriebeleit, der "den Ort mitnehmen" will, hat mit Kick einen Kompromiss gefunden. Die Straße bleibt, wird aber dem Gelände angepasst. Im Gemeinderat ist wieder Frieden eingekehrt.

"Eine Provokation"

Jetzt aber ist auf dem ehemaligen KZ-Appellplatz wieder ein Ufo gelandet. Das Wort vom Ufo im Oberpfälzer Wald prägte ein begeisterter Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung in München schon über die erste Ausstellung 2007. Die zweite, eine noch modernere Multimedia-Schau in der ehemaligen Häftlingsküche, würde man eher in einer Metropole vermuten als in einem Dorf wie Flossenbürg. Einzigartig ist der Inhalt der Ausstellung: An einer raumfüllenden Wand mit Monitoren und Vitrinen mit Hörglocken wird der Umgang mit der NS-Geschichte in Flossenbürg stellvertretend für andere Orte in Deutschland dokumentiert. "Eine Provokation", sagt Skriebeleit. Als der heute 42-Jährige 1996 in Flossenbürg anfing, war er allein, und es herrschte Grabesstille.

Es gab einen Ehrenfriedhof für 6000 Opfer der Todesmärsche, gegen dessen parkähnliche Anlage KZ-Überlebende erfolglos protestiert hatten. Im bereits 1946 erbauten "Tal des Todes", einer kirchlichen Gedenkstätte in Form eines Kreuzwegs, schwammen früher in einem Springbrunnen Goldfische. Die staatliche Gedenkstättenverwaltung hatte zwischen Kapelle und Krematorium etwas fürs Auge bieten wollen.

Heute leitet Skriebeleit ein 14-köpfiges Team und hat eine Dokumentations- und Forschungseinrichtung wie in Dachau geschaffen. 100000 Menschen besuchen jährlich die Gedenkstätte. Den Weg dazu haben aber nicht Gemeinde oder Freistaat frei gemacht. 1998 räumte die Firma Alcatel, die Kabelstränge für die Automobilindustrie herstellte, den Appellplatz. "300 Arbeitsplätze gingen verloren", sagt Werner, der damals schon über eine Neuansiedelung von Gewerbebetrieben zumindest auf einem Teil des Geländes nachdachte. Aber da war nichts zu machen. Der Vorstandsvorsitzende des französischen Mutterkonzerns war zu einer normalen Betriebsbesichtigung nach Flossenbürg gekommen - und voller Entsetzen wieder abgereist. Der Mann, dessen Vater als Jude in Auschwitz ermordet worden war, schenkte das Areal dem Freistaat unter der Auflage, eine Gedenkstätte daraus zu machen.

Skriebeleit und Kick setzen auf Flossenbürger wie Alois Sailer. Auf die politischen Verrenkungen hat der nie viel gegeben, schon gar nichts auf die dummen Sprüche der Kommunalpolitik. "Heime des Glücks" auf "Stätten des Leids" hieß es damals beim Richtfest für die ersten Häuser der Siedlung. Er sagt klar, wie es war: Zu dritt in einer Zweizimmerwohnung, ohne Geld, hat er das einzig erschwingliche Angebot angenommen. Wirklich gewöhnt hat er sich nie an die Aussicht. Aber heute muss er schon auch mal lächeln, wenn er vom Balkon auf den früheren Appellplatz schaut und seine Schwiegertochter Margit sieht. Die arbeitet nämlich für die Gedenkstätte und führt Besucher über das Gelände.

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