Süddeutsche Zeitung

Flossenbürg:Wenn das Vergessen droht

"Ende der Zeitzeugenschaft?": Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg beleuchtet die historische Bedeutung von Überlebenden des Holocaust für die Erforschung von NS-Verbrechen.

Von Olaf Przybilla, Flossenbürg

Man sieht Hanna Bloch Kohner aufrecht in einer Fernsehshow sitzen und muss unwillkürlich an Robert Lemkes heiteres Beruferaten denken. Allerdings geht es hier offenbar nicht darum, womit einer Geld verdient, sondern ums Ganze, um das Leben von Hanna Bloch Kohner.

"This is your Life" heißt die TV-Show, ein Überraschungsformat, in dem nichts ahnende Gäste aus dem Publikum auf die Bühne gebeten und zum Showobjekt werden. Konfrontiert wird die Spontankandidatin Kohner mit einer dramaturgisch arrangierten Nacherzählung ihrer Lebensgeschichte - viel sagen soll und darf sie dazu aber offensichtlich nicht, nur ab und zu "oh" und "ah" bekunden, den Kopf vor Überraschung in den Händen wiegen und vom Showmaster hingeworfene Brocken ergänzen: Ja, Mauthausen hieß das KZ. Genau, 33 Kilogramm abgenommen. Zuletzt dann, Trommelwirbel und Beethoven-Fanfare: Sehen Sie hier, diesen Helden und US-Soldaten, Ihren Befreier! Nein, klar, den hätte Kohner nicht mehr erkannt.

Willkommen im Amerika der Fünfzigerjahre, man sieht mit einiger Fassungslosigkeit: Einen der ersten Auftritte einer Holocaust-Überlebenden vor größerem Publikum, einen Auftritt indes, bei dem die überraschte Zeitzeugin über die Rolle einer offenbar unfreiwilligen Statistin kaum hinauskommt und wohl auch gar nicht hinauskommen soll. Erzählt wird eine gescriptete US-Befreiungsgeschichte mit auf der Bühne vollzogenem Happy End, das Studiopublikum ist hörbar angetan.

Zu verfolgen ist dieser historische TV-Ausschnitt in der Ausstellung "Ende der Zeitzeugenschaft?", die - wie der Titel schon andeutet - freilich mehr ist als eine Annäherung an die geschichtliche Bedeutung von Zeitzeugen für die Erforschung von NS-Verbrechen. Die Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg darf man als geschichtswissenschaftliche Selbstbefragung verstehen: Was wird aus der inzwischen kaum noch zu überblickenden Anzahl von Interviews mit Holocaust-Überlebenden, wenn sich diese in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr selbst zu Wort melden können? Welche Verantwortung tragen Einrichtungen, die solche Zeugnisse bewahren? Und sind tatsächlich digitale Angebote denkbar, die eine Begegnung mit Zeitzeugen ersetzen können?

Die Ausstellung - eine gemeinsame Arbeit des Jüdischen Museums Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg - fragt aber nicht nur, sie befragt auch, selten genug zu beobachten, sich selbst: Wie sind diese im Kontext der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg entstandenen Aufnahmen von Gesprächen mit Zeitzeugen zustande gekommen? Wird in den Gesprächen frei geschildert? Oder wird man als Beobachter eher Zeuge davon, wie ein Geschichtsprodukt entsteht - ein authentisches Produkt womöglich, aber eben, mindestens zum Teil, doch etwas zielgerichtet Gemachtes mit einer klaren Erwartungshaltung?

Zweiter Raum, man kann sich mit einem Kopfhörer in elf Videosäulen einstöpseln und wird dort viel Zeit verbringen. Die Ausschnitte sind kurz, viele davon hört man öfters an, nicht selten aus Fassungslosigkeit. Das ist jetzt nicht mehr das Jahr 1953, das ist auch keine amerikanische TV-Show, das sind kontemporäre Zeitzeugen-Gespräche mit Anspruch. Und trotzdem wird der Holocaust-Überlebende Shelomo Selinger mitten im Redefluss darauf aufmerksam gemacht, dass er nun doch bitte die Geschichte seiner sieben Jahre lang andauernden, offenbar posttraumatischen Amnesie schildern möge. Viel Zeit, wird von der anderen Seite der Kamera noch eingeworfen, sei dafür allerdings nicht mehr.

Selinger war gerade dabei zu erzählen, wie er nach der Befreiung aus dem KZ erstmals in Prag ist, wie er mit der Tram fährt. Aber so genau soll das nun vor der Kamera offenbar nicht dargeboten werden. Die Amnesie bitte! Also flicht Selinger rasch ein paar gewünschte Sätze über den Ausfall seines Erinnerungsvermögens ein. Ist aber glücklicherweise danach noch stark genug, um das zu Ende zu erzählen, was er eigentlich hatte erzählen wollen: Wie er in der Tram Kinder sieht. Wie lange er zuvor keine Kinder mehr hatte sehen können. Wie er den Kindern samt Mutter kurz folgt, als er die Tram verlässt. Wie er erkennt, dass die Mutter Angst vor ihm hat, er an sich herunterblickt und merkt, wie er ausschaut, abgemagert. Und wie er dann anfängt zu weinen, erstmals seit Jahren.

Manche der befragten Zeitzeugen, das legt der Ausschnitt zumindest nahe, dürften nicht stark genug gewesen sein, das zu erzählen, was sie hatten erzählen wollen - und nicht das, was man hören wollte von ihnen. Andererseits, sagt Gedenkstättenleiter Jörg Skriebeleit, liegt das Rohmaterial solcher Zeitzeugen-Interviews in großer Fülle in den Archiven, und dieses erneut zu sichten und dabei auf solche Momente hin zu befragen, wäre womöglich eine Antwort auf die Zweifel, wie es weitergehen kann nach dem oft zitierten und von vielen befürchteten "Ende der Zeitzeugenschaft".

Es gibt aber natürlich auch andere Versuche, solche, die zumindest zeitgemäßer erscheinen. Im letzten Ausstellungsraum ist dokumentiert, wie längst "interaktive Hologramme" von Holocaust-Überlebenden produziert werden, 3-D-Projektionen von Zeitzeugen also, die künftig auf die Fragen der Nachgeborenen antworten können, einem Algorithmus folgend. Wie so etwas einzuordnen ist? Die Ausstellung, die noch bis zum 14. März in Flossenbürg zu sehen ist, bewertet das nicht. Sie schließt mit einem Zwiegespräch von Elie Wiesel und Jorge Semprún aus dem Jahr 1995. Wiesel sagt: "Ich stelle mir immer vor, dass wir in ein paar Jahren den letzten Überlebenden finden." Semprún sagt: "Das ist eine Zwangsvorstellung. Ich stelle mir ein Fernsehteam vor, das anreist und sagt: Mein Herr, meine Dame, Sie sind der letzte Überlebende. Was tut er? Er bringt sich um."

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Quelle:
SZ vom 20.10.2020/kafe/sim
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