Süddeutsche Zeitung

Kurzschrift:Dieser Mann schreibt im Landtag um sein Leben

Ein Stenograf muss die Reden der Abgeordneten blitzschnell begreifen, seine Hand muss es zielsicher in Kurzschrift verwandeln. Es gibt noch keinen Computer, der das kann.

Von Isabel Winklbauer

Noch zwei Minuten, dann beginnt für Volker Springwald das Rennen. Der 46-Jährige setzt sich auf einen von zwei Plätzen an der Stenografenbank, direkt unter dem Rednerpult im Plenarsaal des Bayerischen Landtags. Eine Fracking-Debatte ist im Gange, Springwalds Kollegin schreibt konzentriert mit, was der Abgeordnete hinter ihr spricht. Springwald muss sie gleich ablösen, dabei darf kein Wort verloren gehen.

Noch 20 Sekunden. Springwald beginnt jetzt ebenfalls zu notieren. Seine Aufmerksamkeit ist voll auf die Rede gerichtet. Vor den Schreibern steht ein Funkwecker, der die Ablöse anzeigt: Fünf, vier, drei, zwei eins - dann bedeutet die Kollegin durch ein Klopfen das Ende ihrer Mitschrift und verschwindet nach rechts. Springwald rückt schreibend auf ihren Platz nach. Ein Stenograf muss das Gesagte blitzschnell begreifen, seine Hand muss es zielsicher in Kurzschrift verwandeln. Es gibt noch keinen Computer, der das kann.

"Bei den Plenarsitzungen arbeiten wir unter immensem Zeitdruck", sagt Springwald. "Da wird im Maschinengewehrtempo geredet, ich schreibe da manchmal wirklich um mein Leben." Der gebürtige Augsburger gehört seit 1997 zum elfköpfigen Team der Landtagsstenografen, die nicht nur in jeder Plenarsitzung, sondern auch in Ausschüssen und nicht-öffentlichen Sitzungen mitschreiben.

Die Stenogramme, die er und seine Kollegen im Zehn-Minuten-Staffelsystem erfassen, werden zu offiziellen Protokollen verarbeitet. Im Fall von Plenarsitzungen muss die erste, interne Fassung dieses Protokolls zwei Stunden nach Diskussionsende fertig sein.

"Die Schwierigkeit ist", sagt Springwald, "aus den Wortbeiträgen der Politiker etwas Lesbares herauszuarbeiten." Es gehöre daher auch zur Arbeit eines Stenografen, in Windeseile Sachverhalte zu recherchieren, klare Sätze zu formulieren und merkwürdigen Wortgebilden einen Sinn zu geben. Wie alle Menschen sprechen Politiker in der mündlichen Rede nicht in korrekter Grammatik, das muss geglättet werden. Oder sie verwenden Spezialbegriffe, die der Schreiber nach der Mitschrift erst einmal untersuchen muss.

Das Internet erleichtert die Arbeit immens

Springwald erinnert sich: "Einmal nannte der damalige Innenminister Günther Beckstein in einem einzigen Satz die Namen von fünf verschiedenen Mafia- und Verbrecherorganisationen. Wir haben damals nicht alle Namen im Internet gefunden und mussten sie uns deshalb vom Innenministerium telefonisch durchgeben lassen." Das Internet ist eine immense Erleichterung, früher wühlten die Stenografen in Zeitschriftenarchiven und telefonierten, dass die Drähte glühten.

Sind alle Unklarheiten beseitigt, diktieren die Stenografen ihre Mitschrift auf Band und geben sie einer Schreibkraft zur Niederschrift. Danach sind die Abgeordneten an der Reihe, das Protokoll einzusehen. Drei Tage lang haben sie ein Korrekturrecht, von dem sie auch gerne Gebrauch machen. Sollten Zahlen und Fakten falsch aufgenommen worden sein, könnten sie dies jetzt korrigieren - oder auch ihren eigenen Überschwang.

Hat ein Redner zu hart vom Leder gezogen und beispielsweise aus Ärger einen anderen "Lump" genannt, kann er nachfragen, ob das Ganze nicht in sachlicherem Ton in die Landtagshistorie einfließen könnte. Wenn sein Ausruf keine Antworten und vor allem keinen Ordnungsruf nach sich zog, ist das durchaus möglich.

"Manchmal kommt es auch vor", sagt Springwald, "dass die Abgeordneten diskutieren, ob eine bestimmte Sache überhaupt gesagt wurde oder nicht. Nach stundenlangen Wortwechseln trügt den einen oder anderen schon mal die Erinnerung." Sind auch hier alle Unstimmigkeiten geklärt, gelangt das Protokoll endlich zur Veröffentlichung. Ein Ausdruck landet im schriftlichen Archiv, die elektronische Fassung ist für alle Bürger einsehbar online auf www.landtag.bayern.de.

In seinem Büro im dritten Stock des Maximilianeums sitzt Springwald an einem blitzsauberen Tisch mit ordentlich in eine Reihe gelegten Stiften, Nachschlagebänden und einem Tonbandgerät darauf. Stenografie macht ihm Freude, verrät der zufriedene Blick auf sein Reich. Unter den Kollegen gilt Springwald als Steno-Papst. Schließlich war er schon 1990 Deutscher Jugendmeister im Stenografieren, derzeit hält er den Titel des Bayerischen Vizemeisters. Sein Rekord liegt bei 450 Silben pro Minute. Das ist nicht weit entfernt von den 475 Silben - das schaffen die Allerbesten.

Vor allem aber ist er Purist. "Er liebt Stenografie", sagt Brigitte Hochholzer-Ulrich, die Leiterin des Sitzungsdokumentarischen Dienstes im Landtag, über ihn. "Für ihn steht die Schrift im Wert weit über der Tonaufnahme." Warum, das ist für Volker Springwald schnell erklärt: Es dauert viel länger, einen Tonmitschnitt in ein offizielles Protokoll zu verwandeln, als ein Stenogramm. "Stenografie ist schnell gelesen, ein Tonband läuft Stunden. Zudem ist das Tonband linear, man muss aufwendig vor- und zurückspulen. Stenografie kann man im Überblick betrachten und eine gesuchte Stelle schneller finden."

Deshalb werde Kurzschrift noch lange nicht aussterben, sagt er. Überall in deutschen Parlamenten, manchmal auch bei Gericht, sind noch Stenografen im Einsatz, das digitale Diktiergerät läuft nur zur Sicherheit mit. Doch auch in der Wissenschaft ist Stenografie gefragt. Franz-Josef Strauß war beispielsweise ein fleißiger Kurzschreiber. Wer seine Gedankengänge erforschen will, muss sie erst einmal lesen können.

Die Memoiren von Kardinal Faulhaber sind in der fast ausgestorbenen Gabelsberger-Kurzschrift verfasst. Er wisse selbst nur von rund 50 Leuten, sagt Springwald, die diese Schrift außer ihm beherrschten. Man suche händeringend nach Nachwuchs auf dem Gebiet.

Es gibt etliche Arten der Stenografie, angefangen bei den Tironischen Noten, die einst Marcus Tullius Tiro, ein Sekretär Ciceros, einführte, über die Gabelsbergerschrift mit ihren raffinierten Sonderkürzeln bis hin zur Redeschrift, die die Landtagsschreiber verwenden. Letztere ist eine Weiterentwicklung der Verkehrsschrift, die frühere Generationen noch in der Schule lernten. "Hier werden die Zeichen so stark verkürzt, wie es nur geht", erklärt Springwald, "man arbeitet viel mit Hoch- und Tiefstellungen, schon ein kleines Häkchen bedeutet wichtige Unterschiede, etwa zwischen Singular und Plural. Diese Schrift schafft unheimlich leicht Verwechslungen, ein wahres Minenfeld! Als Schreiber darf man da nicht mehr überlegen müssen, wie der Stift läuft."

Damit auch wirklich jeder Strich exakt sitzt, benutzt Springwald einen Füllfederhalter mit Goldfeder und feiner Strichstärke - dieser macht schon durch sein Eigengewicht beim Aufsetzen eine kurze Linie, die Mühe des Aufdrückens fällt weg, das spart Kraft und Zeit. Geschrieben wird auf eigens für den Landtag hergestelltem, gelackten Spezialpapier, auf dem die Tinte schnell trocknet und kontrastreich sichtbar ist.

Wie Springwald zur Stenografie kam

Es ist nicht zuletzt der sportliche Aspekt, der Springwald in den Achtzigerjahren in der Realschule zum Stenografie-Begeisterten machte. Wie auf den Spuren einer Geheimschrift las er schon früh nur noch die anspruchsvollen Fleißaufgaben am Ende der Stenobücher, bereitete sich auf Wettbewerbe vor. Nach dem Fachabitur kam er 1991 als Praktikant ins Maximilianeum.

Sechs Jahre später, nach dem Abschluss eines Studiums der Diplompädagogik, wurde er fest in den Landtag übernommen. "Was mich aber auch fasziniert, ist", sagt er, "wie stark man Sprache verkürzen kann, so dass davon fast nichts mehr übrig bliebt, und welche Geschwindigkeit dabei entsteht." Stenografie ist ein Höchstleistungssport und Springwald der Sprinter im Wortrennen der Politik.

Im August, wenn der Landtag leergefegt ist, wird es ruhig. Sind Präsidentin Barbara Stamm und die Abgeordneten endgültig in die Sommerferien ausgeflogen, nimmt sich Springwald noch zwei Wochen lang die letzten Mitschriften aus den Ausschüssen vor. Diese müssen nicht so schnell aufs Papier, sie dürfen ein Weilchen liegen. Ist auch das geschafft, legt er den weißen Füller aus der Hand und macht das, was alle machen: Urlaub. Schließlich muss er sich erholen für die nächste Wettkampfrunde. Am 5. November ist das Bundespokalschreiben des Deutschen Stenografenbundes.

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Quelle:
SZ vom 10.08.2016/axi
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