Berchtesgaden:Das Grauen hinter der Bergkulisse

NS-Jungbauern mit ihren Mädchen vor dem Berghof auf dem Obersalzberg, 1937

In Scharen pilgerten Anhänger und Volksgenossen zu Hitlers Berghof, sie gehörten so längst zur Inszenierung der Nazis.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Auf dem Obersalzberg soll die neue Ausstellung "Idyll und Verbrechen" den Täterort mit den Tatorten verknüpfen. Doch dafür muss erst einmal Platz geschaffen werden.

Von Matthias Köpf, Berchtesgaden

Ein Beispiel wird Hansl Brandner sein. Der junge Fotograf aus dem kleinen Ferienort Obersalzberg bei Berchtesgaden verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Schnappschüssen vom Führer. Dessen Anhänger und Volksgenossen gaben gern ein bisschen Geld aus für Hitler-Devotionalien. Anfangs waren sie meist auf eigene Faust angereist, später wurden sie massenweise hergefahren, als Teil der Kulisse.

Hitler ließ den Obersalzberg zum zweiten Regierungssitz und zum Rückzugsort für sich und die NS-Elite ausbauen. Irgendwann sollte auch der junge Obersalzberger Hansl Brandner aus dem "Führersperrgebiet" weichen. Er wollte nicht, übergab Hitler 1937 am Straßenrand eine Petition, dann dauerte es nicht lang, bis er nach Dachau gebracht wurde. Mit solchen Lebensläufen will die Dokumentation Obersalzberg von 2020 an in einer erneuerten Dauerausstellung im neuen Bau Verbindungen vom Täterort Obersalzberg zu den Opfern der Naziherrschaft schaffen. Der Titel wird den doppelten Charakter des Ortes aufgreifen: "Idyll und Verbrechen".

350 Exponate wollen die Ausstellungsmacher dann zeigen, weit mehr als in der bisherigen Schau, die mit einigen wenigen Gegenständen auskommt und hauptsächlich aus reproduzierten Fotos und aus Text besteht. Auch die jetzige Dokumentation wird vom Münchner Institut für Zeitgeschichte verantwortet. Sie wurde 1999 eröffnet, gegen mancherlei Widerstände. Manche fürchteten um ihre Geschäfte mit den Touristen, wenn man zu viel über die Nazizeit rede. Dabei war die Dokumentation am Ende nur gut fürs Image und lockte zusätzliche Gäste an.

Einige andere wollten und wollen weiterhin am besten selbst von der Faszination profitieren, die der Obersalzberg auf allerlei Interessierte ausübte. Und auch Wohlmeinende wie Charlotte Knobloch von der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern oder der 2016 gestorbene KZ-Überlebende Max Mannheimer hatten Sorge, dass eine Ausstellung am Obersalzberg womöglich zum Wallfahrtsort für braunen Pöbel werden könnte. Knobloch und Mannheimer haben ihre Meinung geändert und sich später für die Dokumentation eingesetzt.

Die wurde bald zu eng für ihren eigenen Erfolg. Statt der erwarteten 30 000 bis 40 000 Besucher pro Jahr schoben sich zuletzt etwa 170 000 Menschen durch das lichte Gebäude aus Holz und Glas. Es war auf den Grundmauern des "Gästehauses Hoher Göll" errichtet worden. Hitlers Berghof war nur einen Steinwurf entfernt. Er wurde nach dem Krieg gesprengt, nur eine hangseitige Stützmauer hat überdauert.

Heute schlagen sich hier amerikanische Familien mit fachsimpelnden Vätern durch das überwachsene Gelände. Der Weg dorthin ist als Teil des "Kempinski-Rundwegs" ausgeschildert, denn auch die Luxushotellerie in der Nähe gehörte zu den Maßnahmen, mit denen der Obersalzberg dem wuchernden Nazigrusel entrissen und zeitgeschichtlich zivilisiert werden sollte.

Berchtesgaden: Von Hitlers Refugium ist nichts geblieben, in der Nähe entsteht zurzeit ein neues Gebäude für die Dokumentation.

Von Hitlers Refugium ist nichts geblieben, in der Nähe entsteht zurzeit ein neues Gebäude für die Dokumentation.

(Foto: Matthias Köpf)

Ein wesentliches Ziel der Dokumentation sei es schlicht, den Ort zu besetzen, sagt der Historiker Axel Drecoll, der sie seit 2009 leitet und zum 1. Juni als Direktor zur Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten wechselt. Der Vortrag, mit dem Drecoll und seine Kollegen Albert Feiber und Sven Keller nun die Neukonzeption der Dokumentation vorgestellt haben, war Drecolls Abschied aus Berchtesgaden und zugleich Kellers Antrittsvorstellung als neuer Leiter. Der 41-jährige Historiker aus Donauwörth spezialisierte sich früh auf die Zeit des Nationalsozialismus und auf den späteren Umgang damit. Schon seit 2015 hat er am Münchner Institut für Zeitgeschichte mit Drecoll, Feiber und anderen Kollegen an den Plänen für die neue Ausstellung gearbeitet.

Die soll vor allem in der Präsentation zeitgemäßer werden. An Touchscreens und Medientischen sollen die Besucher vertiefte Informationen abrufen und zum Beispiel die komplett durchinszenierten Bildwelten des scheinbar volksnahen Führers am Obersalzberg auseinandernehmen können. So wäre zu ergründen, warum Hitler in den veröffentlichten Homestorys seines Leibfotografen Heinrich Hoffmann zwar oft Lederhosen trägt, aber niemals seine Lesebrille.

Welche Schicksale gezeigt werden

Viele der neuen Exponate bekamen die Ausstellungsmacher auf ihre Aufrufe hin von den Menschen aus der Region. Bei der Berchtesgadener Familie Renoth zum Beispiel lag noch ein Gaskinderbettchen, eine Art Ganzkörper-Gasmaske mit Sichtfenster für Säuglinge. Auch sonst sollen in der neuen Schau viele Exponate mit Bezug zur Region zu sehen sein, um den Menschen zu zeigen, dass die Verbrechen, die im Idyll am Obersalzberg geplant und beschlossen wurden, nicht nur Krieg, Vernichtung und millionenfachen Mord über ferne Landstriche brachten, sondern auch hier, in Berchtesgaden und Umgebung, zu spüren waren.

Das Alpenvereinsabzeichen des Reichenhaller Arztes Gustav Ortenau ist so ein eigentlich unscheinbares Stück. Ortenau musste als Jude schon früh unter vielerlei Pressionen leiden, seine Mitgliedschaft im Alpenverein gab er zurück, um dem Ausschluss zuvorzukommen. Auf den Seiten aus dem Hüttenbuch der Ligeret-Alm, auf denen einige Gäste das erstmalige Hissen der neuen Hakenkreuz-Fahne feierten, werden auch in der neuen Schau die Namen unkenntlich sein - wegen des Datenschutzes, heißt es, denn die Berchtesgadener DAV-Sektion konnte keine Einwilligung der jeweiligen Familien beibringen.

Von der Jüdin Dora Reiner aus Schönau am Königssee finden sich vor allem Spuren in der Bürokratie ihrer Mörder. Als in Berchtesgaden ihr Besitz versteigert wurde, war sie schon nach Kauns in Litauen deportiert worden und dort bei einer der zahlreichen Massenerschießungen gestorben. Oder das Fotoalbum eines Gebirgsjägers aus der Kaserne in der Strub bei Berchtesgaden, dazu Einsatzberichte der Gebirgsjäger, die dabei halfen, Leningrad abzuriegeln, um möglichst viele Menschen verhungern zu lassen und die Lebensmittel ins Reich zu schicken. Für solche Geschichten sollen besondere Ausstellungsstücke ins Zentrum rücken, als "Key Visuals" für die Eiligen, die sehr viel weniger als die durchschnittlichen eineinhalb Stunden für die Ausstellung aufbringen wollen.

Ein zentrales Anliegen sei es, den Täterort Obersalzberg mit den Tatorten zu verknüpfen, sagt der neue Leiter Sven Keller. Tatorte gab es unzählige, doch man habe sich wegen der gut aufzeigbaren Verbindungen für Auschwitz, Leningrad, Kaunas und die Tötungsanstalt in Hartheim bei Linz entschieden, wo die Nazis ihr menschenverachtendes Euthanasie-Programm exekutierten. Der fünfte Komplex sind Treblinka und Warschau, wo Hitler den Gettoaufstand niederschlagen ließ, während er am Obersalzberg Geburtstag feierte.

Die Tatorte und die Verbrechen werden räumlich im Mittelpunkt der Ausstellung stehen, Themenkomplexe wie die Inszenierung am Obersalzberg, der wahnhafte Traum von der Volksgemeinschaft oder die vom Obersalzberg aus betriebene Außenpolitik sollen mit steter Perspektive darauf hinführen. Ein neuer Zugang soll den Bunker im Berg in den Rundgang einbinden, der bisher eher als Fortsatz an der Schau hängt, aber für viel Gäste ein besonderes Faszinosum und ein wichtiger Grund ist, die Dokumentation überhaupt zu besuchen.

Entstehen wird all das auf rund 900 Quadratmetern in dem Neubau, für den die Arbeiter gerade die Baugrube aus dem Hang gesprengt, gegraben und betoniert haben. Eine britische Fliegerbombe, auf die sie dabei im vergangenen Oktober stießen, wird ebenfalls Teil der Ausstellung werden. Das jetzige Gebäude wird dann nur noch als Bildungszentrum für Seminare dienen. Kostensteigerungen von anfangs neun auf inzwischen mindestens 21 Millionen Euro haben einige Debatten im Landtag nach sich gezogen sowie irritierte Fragen an anderen Gedenkorten, warum gerade für Führers Idyll so viel Geld da sei.

Vor Verteilungskämpfen kann Axel Drecoll als scheidender Leiter der Dokumentation nur warnen. Platte Parallelen zur Gegenwart sind nicht seine Sache als Historiker. Aber hier am Obersalzberg lasse sich deutlich machen, wohin ideologische Vorstellungen von einer homogenen Gesellschaft im schlimmsten Fall führen könnten, sagt er. Und dafür gebe es derzeit wohl wieder mehr Bedarf als vor einigen Jahren.

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