Kulturgeschichte:Abkehr vom Saurausch

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Biertrinken gehört in Bayern zur Kulturgeschichte - bis heute.

(Foto: Getty Images)

Einst lobten sogar Preußen die "tüchtigen Biertrinker" aus Bayern. Doch das Image des Exzesses hat über die Jahrhunderte gelitten. Wie konnte das passieren?

Von Andreas Glas

Heutzutage ist die Grenze zwischen dem Trinken und dem Saufen, nun ja, fließend. Früher war das anders, da gab es die "Rauschtafel", die in der Wirtstube an der Wand hing und dem bayerischen Bierkonsumenten anzeigte, wie viel er trinken muss, um auch wirklich besoffen zu sein. Einen "Suff" hatte Mitte des 19. Jahrhunderts, wer laut Rauschtafel 78 Kreuzer in Bier investiert hatte, was sehr genau 13 Litern entsprach.

Alles drunter war nie und nimmer ein Suff, das war höchstens ein "Spitz", ein belangloser "Dusel", ein lächerlicher "Brummer". Insgesamt 28 Rauschzustände kannte die Tafel, die beim "Suff" nicht aufhörte, denn nach dem Suff kam der "Rausch", dann der "Fetzenrausch", irgendwann der "Kanonenrausch" und ganz am Schluss, nach der 25. Mass Bier, da kam der finale "Saurausch". Herzlichen Glückwunsch!

Natürlich war die Rauschtafel nicht ganz ernst gemeint. Die Tafel war dazu da, die Wirtshausgäste zum Lachen zu bringen. Früher gab es die Rauschtafel, heute gibt es Spaß-T-Shirts, auf denen semilustige Sprüche stehen wie "Spart Wasser, trinkt Bier" oder "Wo saufen eine Ehre ist, kann Kotzen keine Schande sein". Zu den Spaß-T-Shirt-Trägern gehören zum Beispiel die Junggesellenabschieds-Horden, die an den Wochenenden mit traglweise Bier im Gepäck mit der Bahn in die bayerischen Großstädte fahren und schon hackedicht sind, bevor sie am Hauptbahnhof ankommen. Diejenigen, die das Saufen verklären, gab es also damals wie heute. Und trotzdem: Die Einstellung zum Bierrausch hat sich gewandelt.

Streng genommen hat dieser Wandel Ende des 18. Jahrhunderts begonnen - und setzt sich bis heute fort. In der Zeit vor dem 18. Jahrhundert war es noch unüblich, mit Verachtung auf diejenigen runterzuschauen, die sich exzessiv volllaufen ließen. Im Gegenteil, es war ja gerade die höhere Gesellschaft, die sich im Wirtshaus ein Bier nach dem anderen reinstellte. Aus einem einfachen Grund: Die meisten Leute waren arm und ein ordentlicher Fetzen hat schon damals ein ordentliches Geld gekostet. Exzessiver Bierkonsum war denen vorbehalten, die sich den Rausch leisten konnten.

Dazu kam, dass die Menschen wenig darüber wussten, wie schädlich der Alkoholexzess sein kann. Manche waren vielmehr der Meinung, das Bier sei dermaßen gesund, dass man nicht genug davon trinken könne. Der oberfränkische Politiker Ignaz Rudhart (1790-1838) zum Beispiel, der "das kräftige Aussehen und die genußlustige Heiterkeit der Bayern" für den Beweis hielt, "dass das gute Bier günstig auf die Gesundheit wirkt".

Und selbst ein Preiß' wie der Berliner Schriftsteller Friedrich Nicolai schrieb im Jahr 1781 über die Bayern, dass sie "tüchtige Biertrinker" seien, "wie auch ihre starken Knochen, runden Köpfe und feisten Wämse genugsam zeigen". Eine Beobachtung, die man auch heute noch machen kann - nur beneidet heute halt keiner mehr die rundköpfigen, feistwämstigen Bierdimpfln um ihre angeblich so starken Knochen.

Mit dem Fortschreiten der Aufklärung geriet der Suff dann allmählich in Misskredit. Statt Alkoholexzessen war nun gemäßigter Konsum angesagt, das passte ins aufklärerische Leitbild der Tugend und Vernunft. Außerdem entlarvten die Mediziner nach und nach den Mythos, dass Bier gesund sei. Dies sei "eine der verhängnisvollsten Lügen und Thorheiten, die je von Menschen erdacht wurden", schrieb Ende des 19. Jahrhunderts der Münchner Mediziner Hans Buchner (1850-1902).

Die Freude am Saufen blieb - zunächst

Doch während das Bildungsbürgertum sich mäßigte, ließen sich der Adel und die breite Bevölkerung die Freude am Saufen nicht nehmen, jedenfalls nicht alle und schon gar nicht an Festtagen, zum Beispiel zu Kirchweih. Wie sehr der Rausch und die daraus resultierende Rauflust auch im frühen 20. Jahrhundert noch verklärt wurden, hat der schwäbische Schriftsteller Franz Josef Bronner damals so beschrieben: Wenn in den Tagen nach Kirchweih "mancher auch mit blaugeschwollenem Auge oder verbundenem Kopfe umherläuft, ist er gleichwohl der Meinung: Lusti is gwen, und schö aa! Dös is heuer a Kirtag wen, 'sell kann sich sehen lassen!"

Verherrlicht wurde der Rausch allerdings nur, wenn sich ein Mannsbild die Kante gab. In "Spemanns goldenem Buch der Sitte", einer Art Knigge des frühen 20. Jahrhunderts, heißt es unmissverständlich, dass das Bier "die schlanke Figur" der Frau ruiniere. Außerdem locke ein "Frauenmund, dessen Lippen mit Bierschaum garniert sind, (. . .) nicht zum Kuß, und zu küssen ist (. . .) doch sicher der schönste Beruf der Frau". Dass eine Frau in der Öffentlichkeit besoffen war, kam allerdings selten vor, da praktisch nur Männer in den Wirtshäusern saßen. Wenn nicht gerade Kirchweih war, eine Hochzeit oder sonst irgendein Fest, dann war den Frauen vor allem der private Raum zugeteilt, sprich: die eigenen vier Wände.

Dass der Bierexzess aber nicht nur in Kneipen und Wirtsstuben zu Hause war, ließ sich in Bayern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beobachten. Und zwar besonders gut auf Baustellen, wo das Biertragl so selbstverständlich zum Equipment gehörte wie die Werkzeugkiste. Mancher Maurer oder Zimmerer kam problemlos auf 20 Halbe Bier pro Schicht - bevor er nach Feierabend weiterzog ins Wirtshaus. Bis vor wenigen Jahrzehnten "hat der Glaube daran, dass das Bier stärkt, immer noch eine erhebliche Rolle gespielt", sagt Werner K. Blessing. Dass bayerische Arbeiter inzwischen Mineralwasser trinken, bezeichnet der Münchner Historiker als "richtigen Kulturbruch".

Früher gehörte die Halbe zum guten Ton

"Wenn man früher Handwerker im Haus hatte, gehörte es zum guten Ton, ihnen eine Halbe Bier hinzustellen. Heute wäre das direkt eine Beleidigung", sagt Blessing - und macht damit anschaulich, wie tief das aufklärerische Denken inzwischen in alle Gesellschaftsschichten gesickert ist. Nie gab es so viele Mediziner, Moralisten und Miesmacher, die das exzessive Trinken so verteufeln wie heute. Statt sich von Zeit zu Zeit einen ordentlichen Rausch zu gönnen, sind immer mehr Menschen der Meinung, dass es ihnen besser steht, wenn sie ihre Lust am Exzess asketisch unterdrücken.

Sechs, sieben Halbe Bier passen eben nicht in den Paleo-Ernährungsplan der Selbstoptimierungsgesellschaft. Der Zeitgeist von heute erinnert Historiker Blessing an die Lustfeindlichkeit der Aufklärungsbewegung, die alle Störfaktoren ausschalten wollte, die den Fortschritt behindern. Im Laufe der Geschichte komme ein solcher Zeitgeist "in gewissen Wellen immer wieder", sagt Blessing.

Das Image des Bierrauschs ist also gerade mal wieder ziemlich kaputt. Überlebt hat der Exzess trotzdem. Wer sich davon überzeugen will, braucht sich nur auf den großen Bierfesten umschauen, die in den kommenden Wochen überall in Bayern beginnen. Freilich weiß heute jeder, dass die Lust am Saufen nicht gesund ist, nicht vernünftig und vielleicht auch nicht besonders schick. Nur wird sich an einer Tatsache halt nie etwas ändern: Die unvernünftigen Dinge sind meistens die schönsten.

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