Kultur:Licht am Ende des Tunnels

Kultur: Insgesamt 60 Meter lang ist der Tunnel, der dem Regensburger Kunstprojekt Art Lab Gleis 1 nun als Raum für Kreativität dient.

Insgesamt 60 Meter lang ist der Tunnel, der dem Regensburger Kunstprojekt Art Lab Gleis 1 nun als Raum für Kreativität dient.

(Foto: Donumenta/oh)

Eine Fußgängerunterführung zwischen Gleis 1 und Gleis 9 des Regensburger Hauptbahnhofs war jahrelang zugenagelt. Nun ist sie für Künstler geöffnet

Von Andreas Glas, Regensburg

Die Tür fällt zu, dann ist es fast dunkel. Da ist nur ein schmaler Lichtstrahl, der den Tunnel der Länge nach durchschneidet. Es riecht nach Keller, nach feuchten Mauern. Die Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Um den Schweinwerfer zu erkennen, der in der Mitte des Tunnels von der Decke hängt. Es ist ein Doppelscheinwerfer, der die zwei Skulpturen bestrahlt, die ebenfalls an der Decke befestigt sind. Eine am Tunnelanfang, die andere am Tunnelende. Dazwischen liegen 40 Meter, sonst ist da nichts, nur leerer Raum. Was soll das?

"Gehen wir weiter", sagt Berkan Karpat. Am Tunnelende bleibt er stehen, neben einer der beiden Skulpturen: einem Kubus aus Plexiglas. Der Kubus hat zwei Kammern, beide sind mit Wasser befüllt. In jeder Kammer schwimmt eine kleine Folie, bedruckt in arabischer Schrift. Zwei Kapitel des Korans, die Suren 96 und 114. Gleich wird Karpat das Wasser dazu bringen, die Suren zu singen. Der Künstler wird zuhören und über sein eigenes Kunstwerk staunen. Dann wird er sagen: "Für mich ist das eigentlich nicht erklärbar."

Singendes Wasser? Um das zu kapieren, muss man zuerst den Ort erklären, an dem der Münchner Künstler Karpat seine Installation "Iqra" platziert hat: in der Fußgängerunterführung zwischen Gleis 1 und Gleis 9 des Regensburger Hauptbahnhofs. Fast 15 Jahre lang war der Tunnel zugenagelt. Er war überflüssig geworden, seit es diesen gläsernen Steg gibt, über den die Menschen jetzt überirdisch zu den Zügen hasten. Seit ein paar Monaten ist der Tunnel wieder offen. Die Unterführung ist jetzt ein Kunstraum. Der Titel dieses Projekts: Art Lab Gleis 1.

"Wir können hier machen, was wir wollen", sagt Regina Hellwig-Schmid. Sie ist die Vorsitzende des Vereins Donumenta, der seit Jahren künstlerische Maßstäbe in Regensburg setzt. Im Frühjahr 2017 hat Hellwig-Schmid bei der Deutschen Bahn nach der Erlaubnis gefragt, den Tunnel als Ausstellungsfläche zu nutzen. Der Raum ist 5,30 Meter breit und 60 Meter lang. Senfgelbe Kacheln, Neonlichtröhren, leere Fahrplankästen an den Wänden. "Wow", sagt Hellwig-Schmid, wenn sie von dem Moment erzählt, als im Frühjahr 2019 die Zusage der Bahn kam. "Das Adrenalin war sofort da."

Nun, ein halbes Jahr später, ist Berkan Karpat bereits der zweite Künstler, der im Tunnel am Hauptbahnhof ausstellt. "Iqra" habe er eigens "für diesen Ort konzipiert", sagt Karpat. Das ist auch die Idee hinter Art Lab Gleis 1: "Die Künstler werden eingeladen, etwas für diesen Ort zu machen. Denn der Raum macht auch etwas mit dem Künstler und dem Werk, nicht nur mit dem Besucher", sagt Donumenta-Chefin Hellwig-Schmid.

Künstler Karpat beschäftigt sich seit Jahren mit dem Koran als ästhetisches Manifest. Die ersten Verse des Korans soll Prophet Mohammed durch den Erzengel Gabriel empfangen haben, in einer Höhle im Berg Hira. Betrachtet man den Bahnhofstunnel als Höhle der Neuzeit, ist das ein ziemlich guter Ort für Karpats raumbezogene Kunst. Er steht jetzt in der Mitte der Unterführung, unter einem Holzkasten, der an der Decke des Tunnels befestigt ist. Aus dem Kasten ragt ein Hebel. Karpat greift nach dem Hebel und drückt ihn nach rechts. Plötzlich ist da ein Grollen, das die ganze, 60 Meter lange Unterführung erfasst - und fast melodisch zwischen den Skulpturen an den beiden Enden des Tunnels schwingt.

Die Erklärung: Im Holzkasten steckt ein Messgerät, das an die beiden Wasserkammern des Plexiglas-Kubus angeschlossen ist. Wird das Gerät angeschaltet, erzeugt das Wasser Schwingungen. Ein Verstärker verwandelt diese Schwingungen in akustische Signale. Legt man den Hebel nach rechts, übersetzt das Messgerät nur die Schwingungen jener Kammer, in der die Sure 114 schwimmt. Legt man den Hebel nach links, hört man nur die Schwingungen der Sure 96. Obwohl das Wasser in den beiden Kammern aus derselben Quelle stammt, erzeugen die Suren unterschiedliche Klänge. Warum das so ist, "das kann die Physik im Augenblick auch nicht erklären", sagt Karpat.

Was man wissen muss: Für Muslime ist es wichtiger, den Koran zu hören, als ihn zu lesen. Es gibt besonders ausgebildete Rezitatoren, die die Suren kunstvoll-melodisch vortragen. Hier, in der Bahnhofsunterführung, "rezitiert das Wasser den Koran", sagt Künstler Karpat, dessen Installation die Suren nicht nur hörbar macht, sondern auch fühlbar. Um das zu demonstrieren, geht Karpat zurück zur ersten Skulptur im Tunnel. Wer die Skulptur mit den Händen berührt, wer dabei die Augen schließt und ein paar Minuten innehält, der kann die Schwingungen der Suren im ganzen Körper spüren. Für das Erlebnis, wenn Kunstwerk und Betrachter in Verbindung treten, wenn sich Hören in Fühlen verwandelt, hat Berkan Karpat einen Begriff geprägt: cyberphysical art.

Die Kunstinstallation "Iqra" ist noch bis zum 20. Oktober in der Unterführung am Hauptbahnhof zu sehen. Der Eintritt zu den Ausstellungen im Bahnhofstunnel ist frei.

In einer früheren Fassung dieses Artikels war angekündigt, dass nach Berkan Karpat die Künstlerin Susi Gelb mit ihrer Ausstellung "Delay 1,5" in den Tunnel zieht. Inzwischen hat Donumenta mitgeteilt, dass diese Ausstellung entfällt.

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