München/Karlsruhe:25 Jahre Kruzifix-Urteil

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Über die Art und das Aussehen der Kreuze in den Klassenzimmern von Grundschulen kann verhandelt werden. Und natürlich wird auch viel über religiöse Symbole im Unterricht gesprochen. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Eine Ausnahmeregelung erlaubt trotz eines Urteils des Bundesverfassungsgericht noch immer Kreuze in der Schule

Von Martina Scheffler (DPA), München/Karlsruhe

"Paragraf 13 Absatz 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern ist mit Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar und nichtig". Mit diesem Satz löste das Bundesverfassungsgericht vor 25 Jahren in Bayern ein mittleres Erdbeben aus. Es ging ums Kreuz. Es war schon eine arge Zumutung, die Karlsruhe dem damals noch sehr viel katholischeren Freistaat auferlegte. Der rechtswidrige Satz der Schulordnung besagte, dass in jedem Volksschul-Klassenzimmer ein Kruzifix zu hängen habe. Wo, war egal.

Meist hing es rechts der Tafel über dem Waschbecken, wie sich die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, erinnert. Von da sollte es weg, nach dem Willen eines Vaters, der seinen Kindern den Anblick eines männlichen Leichnams, wie es hieß, ersparen wollte. Das Gericht sah diesen Wunsch durch die Glaubensfreiheit gedeckt. Das Urteil vom 16. Mai 1995 wurde erst deutlich später veröffentlicht: am 10. August. Mitten in den Sommerferien. "Wir waren im Urlaub. Und da kam dieser Paukenschlag. Und das hat uns in der Tat kalt erwischt", erinnert sich der damalige Kultusminister Hans Zehetmair (CSU).

Der Rage in Bayern tat das keinen Abbruch. In seltener Einigkeit kämpften Politik und Gesellschaft für das Kreuz. 700 000 Unterschriften gegen das Urteil sammelte die katholische Kirche bis Jahresende, 25 000 Menschen demonstrierten in München. Die CSU wollte eine Änderung des Grundgesetzes prüfen, damit das Kreuz hängen bleiben konnte. Die Katholiken fühlten sich an Nazi-Zeiten erinnert. Selbst der spätere Papst Benedikt XVI. äußerte "Bestürzung". Die Grünen und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft dagegen fanden das Urteil zeitgemäß. Und das Gericht warnte vor seiner eigenen Missachtung. "Dies war kein Glanzstück des höchsten deutschen Gerichtes", urteilt Zehetmair auch 25 Jahre später noch. Das Kreuz zu sehen sei ein Angebot gewesen, "kein Aufdringen".

Schließlich änderte das Land den inkriminierten Satz und fügte eine Ausnahmeregelung hinzu, so dass sich praktisch kaum etwas änderte - wer kreuzfrei lernen oder lehren will, muss gut begründet dagegen vorgehen. Der Gerichtsbeschluss habe "eine Welle der Empörung bis hin zu Verbitterung ausgelöst", sagte der damalige Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) seinerzeit im Landtag. "Wir in Bayern sehen unsere Identität auch in der Form des Kreuzes sinnbildhaft dargestellt, weil das Christentum das dauerhafteste und prägendste Element unserer Geschichte darstellt", betonte er. Vom Christentum als Kulturfaktor sprach Stoiber.

Hans Zehetmair (CSU), ehemaliger Kultusminister von Bayern, erfuhr in den Sommerferien von dem Urteil. (Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Eine Interpretation, die mehr als 20 Jahre später der jetzige Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit seinem sogenannten Kreuzerlass aufgriff - dem Beschluss, im Eingangsbereich sämtlicher Landesbehörden ein Kruzifix anzubringen. Dafür erntete er auch von Kirchenseite Kritik - eben weil das Kreuz als kulturelles Zeichen verwendet werden sollte. Das bayerische Schul-Kruzifix kam noch mehrmals vor Gericht, so etwa 1999 vor das Bundesverwaltungsgericht und 2001 vor den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, wo ein klagender Lehrer Erfolg hatte. Mal störten sich die Gegner an der empfundenen Brutalität, sahen in dem Kreuz ein Holocaust-Symbol oder wünschten sich eine andere Darstellung - dann gab es statt des Leichnams Regenbogen und Fische. Doch das Kreuz hängt und hängt und hängt - allerdings kam es auch noch nicht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der 2009 in einem italienischen Fall die Religionsfreiheit verletzt sah. 2011 entschied die Große Kammer des EGMR dann anders.

Lehrerpräsidentin Fleischmann sieht in dem Kreuz als Stein des Anstoßes für Diskussionen heute durchaus etwas Positives. Da gehe es "um ein Thema, das immer präsent ist: Werteerziehung". Auch über die Art der Kreuze werde viel diskutiert, über religiöse Symbole allgemein und wer sie braucht. Seit 2015 blicke man an Schulen durch die Integration von Flüchtlingen neu auf das Thema. Religiosität sei in vielen Familien ein Thema und bestimme den Jahreszyklus. Kinder, die nicht dem christlichen Glauben angehören, seien oft aufgeschlossen. Wenn sie gar nicht religiös seien, könnten sie es schon mal "greislig" finden. Aber es rege zum Reden an.

© SZ vom 13.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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