Geschichte:Tod auf dem Einödhof

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100 000 Mark (das entspricht heute in etwa 3500 Euro; 1922 hatte bereits die Inflation begonnen) sollte laut Original-Fahndungsplakat derjenige bekommen, der dazu beiträgt, den Täter zu verhaften. (Foto: Hans Kratzer)

Vor fast 100 Jahren erschlägt ein Unbekannter in Hinterkaifeck brutal sechs Menschen. Die Tat wird nie aufgeklärt. Bis heute lässt der mysteriöse Mordfall die Menschen nicht los.

Von Hans Kratzer, Ingolstadt

Der Mordfall Hinterkaifeck zählt zu den rätselhaftesten Verbrechen der deutschen Kriminalgeschichte. 94 Jahre sind nun vergangen, seitdem auf dem Einödhof sechs Menschen mit einer sogenannten Reuthaue brachial erschlagen wurden. Trotz jahrzehntelanger Ermittlungen wurde der Mörder nie gefunden, die Zahl der Tatverdächtigen ist indessen ebenso groß wie das Interesse der Bevölkerung, das nie abgeflaut ist. Im Bayerischen Polizeimuseum in Ingolstadt ist am Donnerstag eine Ausstellung über den Mythos Hinterkaifeck eröffnet worden, die das Verbrechen aus einem neuen, überaus packenden Blickwinkel beleuchtet, nämlich aus der Sicht der Polizei.

Gerade die Arbeit der Ermittler vom Auffinden der Leichen im April 1922 bis in die Fünfzigerjahre, in denen das Verfahren wegen Verjährung eingestellt wurde, zeigt überzeugend auf, warum Hinterkaifeck die Menschen nicht loslässt. Hier kommt alles zusammen, was ein aufmerksames Herz bewegt - die Abgründe der alten bäuerlichen Welt ebenso wie Gewalt, Bigotterie und vor allem jene Myriaden von Rätseln, die das Blutbad von Anfang an begleitet haben.

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Parallel zur neuen Ausstellung hat der Journalist Mathias Petry mit einer neuen Mordtheorie aufhorchen lassen, die er allerdings als Nebengeschichte in einem Roman platziert hat ("Kainegg, ein ziemlich kriminelles Heimatbuch", erschienen bei Create Space). Petry tat dies mit Absicht. Er stammt ganz aus der Nähe von Hinterkaifeck, aus Hohenwart im Landkreis Pfaffenhofen, und hat noch mit vielen Zeitzeugen sprechen können.

Seine These lautet, der Hofbesitzer Andreas Gruber habe seine Familie an jenem 31. März 1922 selber erschlagen. In einem Akt der Selbstjustiz sei er einen oder zwei Tage später von einem anderen Mörder getötet und zu den anderen Leichen gelegt worden. Den Namen des Täters glaubt Petry zu kennen, nennen will er ihn aber nicht, aus Rücksicht auf noch lebende Angehörige. "Ich lebe ja hier und habe gesehen, wie die älteren Leute unter der Geschichte gelitten haben."

Besonders betroffen war die Familie Schlittenbauer, die sogar körperliche Gewalt erdulden musste. Lorenz Schlittenbauer hatte 1918 ein Verhältnis mit der Gruber-Tochter Viktoria Gabriel begonnen und galt als möglicher Vater ihres Sohnes Josef. Man hielt ihn lange für den Hauptverdächtigen. "Schlittenbauer war es nicht", davon ist Petry fest überzeugt. Schon weil er als schwerer Asthmatiker und körperlich schwächlicher Mann gar nicht die Kraft gehabt habe, mit der Reuthaue so heftig zuzuschlagen, wie dies in der Mordnacht geschehen ist.

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Auf dem Friedhof von Waidhofen, auf dem auch die Mordopfer begraben sind, ist ein berührendes Zeugnis zu bestaunen. Unter lauter schwarzen Grabsteinen ragt ein einziger weißer Stein heraus. Es ist die Grabstätte der Familie Schlittenbauer, die hier einst mit der Farbe weiß, die Farbe der Unschuld, ihre Antwort auf die Verdächtigungen zum Ausdruck gebracht hat.

Schon in den Siebzigerjahren hatte der Journalist Peter Leuscher das Interesse an Hinterkaifeck mit einer sich wie ein Thriller lesenden Dokumentation über die Mordnacht und ihre Folgen kräftig befeuert. Später musste sich die Bestseller-Autorin Andrea Maria Schenkel gerichtlich des Vorwurfs erwehren, sie habe für ihren Erfolgsroman "Tannöd" aus Leuschners Hinterkaifeck-Büchern abgekupfert.

Auch Dokumentarfilmer, Polizeischüler und Heimatforscher beschäftigten sich intensiv mit der Frage, was damals, in der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922 geschehen ist. Im Jahr 2007 analysierten 15 angehende Kriminalbeamte den Fall Hinterkaifeck und kamen zu dem Ergebnis, dass der oder die Täter mit der heutigen Kriminaltechnik mit großer Sicherheit überführt worden wären.

Seit einigen Jahren betreibt eine Gruppe von Hinterkaifeck-Interessierten eine Internet-Seite, die den aktuellen Sachstand umfassend dokumentiert. Die Administratoren der Seite, Olaf Krämer und Jasmine Kaptur, haben nun auch die Ausstellung im Polizeimuseum in Ingolstadt federführend konzipiert. Diese erste Kooperation einer Internetplattform mit einem Museum zeigt auf bemerkenswerte Weise, warum man sich der Magie dieses Themas kaum entziehen kann.

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(Foto: Hans Kratzer)

Die Ausstellung zeigt ein Modell des Einödhofs.

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(Foto: Hans Kratzer)

Hauptverdächtiger Lorenz Schlittenbauer gilt bis heute als Mörder.

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(Foto: Hans Kratzer)

Autor Mathias Petry am Marterl in Hinterkaifeck.

Nicht nur, weil sogar jener Teil des Stalls aufwendig nachgebaut wurde, in dem eines der Mordopfer aufgefunden wurde. Auch auf die Frage, warum die Ermittlungen damals so oberflächlich und zum Teil dilettantisch geführt wurden, liefert die Ausstellung neue Antworten. Hinterkaifeck war einer der ersten Mordfälle überhaupt, zu dem die Kriminalpolizei aus München hinzugezogen wurde. Bis dahin war allein die örtliche Polizei mit solchen Verbrechen auf dem Land befasst. Animositäten und Zuständigkeitsgerangel mag es auch hier gegeben haben.

Die Ausstellungsmacher können aufgrund der effektiven Zusammenarbeit im Netzwerk der Internetseite sogar neue Akten und Fotografien präsentieren. Zum Beispiel das einzige Foto, auf dem Mitglieder der Familie Gruber zu sehen sind. Auch jenes alte Sterbebild, auf dem handschriftlich die Worte "Neid, Blutschande, Gottes Strafe" vermerkt wurden. Zweifellos verhielt sich die Familie Gruber zu Lebzeiten seltsam. Immerhin wurden Viktoria Gabriel und ihr Vater Andreas zu Zuchthausstrafen wegen Blutschande verurteilt.

Und dann erst die vielen rätselhaften Vorgänge kurz vor der Tat. Die Magd, die den Hof fluchtartig verließ, weil sie sich beobachtet fühlte. Die Person am Waldrand, die tagelang den Hof beobachtete. Die Geräusche auf dem Dachboden. Die verschwundenen Schädel der Getöteten. Und die Mordwaffe, die erst ein Jahr danach beim Abriss des Hofes entdeckt wurde. Man kann als kriminalistisch angehauchter Besucher von den Objekten dieser Ausstellung gar nicht genug kriegen.

Mythos Hinterkaifeck - Auf den Spuren eines Verbrechens, Sonderausstellung, Bayerisches Polizeimuseum in Ingolstadt im Turm Triva (südliches Donauufer), Di-Fr 9- 17.30 Uhr. Sa-So 10-17.30 Uhr.

© SZ vom 23.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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