Kriminalität:Das Kartell des Schweigens

Ein Kronzeuge verschafft der Justiz Einblick in die Ingolstädter Russenmafia - nun ist sein Leben in Gefahr.

Stefan Mayr

Der Angeklagte Johann H., 23, fixiert den Kronzeugen Peter S. mit finsterem Blick, seine Kiefermuskeln verrichten Schwerstarbeit. H. hat die Figur eines Bodybuilders, er trägt einen blauen Kapuzenpulli, sein Schädel ist kahlrasiert. Er und drei Mitangeklagte wurden mit großem Polizeiaufgebot, Handschellen und Fußketten in den Sitzungssaal 11 des Landgerichts Ingolstadt geführt.

Kriminalität: Nur selten gelingt der Polizei ein Schlag gegen die Russenmafia.

Nur selten gelingt der Polizei ein Schlag gegen die Russenmafia.

(Foto: Foto: ddp)

Vor der Großen Strafkammer müssen sie sich wegen Heroinhandels verantworten. Zeuge S. belastet seine ehemaligen Komplizen schwer. Als S. den Raum verlässt, zischt ihm Johann H. hinterher: "Viel Glück."

Peter S. weiß, dass dieser Wunsch alles andere als ernst gemeint ist. Als ehemaliges Mitglied der Russenmafia hat er seine Taten gestanden und sich bereiterklärt, über das Innenleben seiner Bande auszusagen. Mit diesem "Verrat" beging er im System seiner Bande eine Todsünde.

Deshalb wurde er ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Im Gegenzug für seine Aussage erhielt er "nur" zwei Jahre auf Bewährung - und eine neue Identität, die selbst sein Anwalt nicht kennt. Vor Gericht sagt er noch unter seinem alten Namen Peter S. aus, dabei beschützt ihn ein halbes Dutzend Polizisten in Zivil. Als S. den Gerichtssaal verlässt, raunt ein Zuschauer einem uniformierten Polizisten zu: "Irgendwann kriegen sie ihn doch."

Gespenstische Szenen

Es sind gespenstische Szenen, die sich zurzeit in den Gerichtssälen Bayerns abspielen. Denn die Ingolstädter Bande, die insgesamt 20 Kilogramm Heroin verkauft haben soll, ist kein Einzelfall. So hat die Staatsschutzkammer am Landgericht München Ende August Thomas F. wegen Drogenhandels, Erpressung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer siebeneinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt.

Der gebürtige Tadschike, 31, gilt als Statthalter der Russenmafia in Kaufbeuren. Die Staatsanwaltschaft Kempten bestätigt, dass sie gegen weitere drei Bandenmitglieder Anklage zur Staatsschutzkammer erhoben hat. Einer der Angeklagten gilt als Kopf der Vereinigung, die nicht nur im Allgäu, sondern bayernweit tätig war. Dem 39-Jährigen wird Drogenhandel, Erpressung, Geld- und Ausweisfälschung, gewerbsmäßiger Diebstahl und Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.

Ingolstadt und Kempten, das sind nur zwei von 89 Verfahren gegen das organisierte Verbrechen, die die offizielle Polizeistatistik für 2007 in Bayern aufführt. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) stellte jüngst die Gefahr durch mafiaartige Banden auf die gleiche Stufe wie den islamistischen Terrorismus: "Die organisierte Kriminalität bedroht unser Gesellschaftssystem in Europa ernsthaft", so Herrmann.

Ein Ermittler, der namentlich nicht genannt werden will, sagt: "Es ist besser, wenn die Öffentlichkeit nicht erfährt, was alles so läuft." Herrmann räumt ein, dass die Machenschaften der Mafia in Bayern weitgehend unentdeckt bleiben: "Die Dunkelziffer bei organisierter Kriminalität ist enorm hoch." Mit anderen Worten: Die jüngsten Gerichtsprozesse sind nur die Spitze des Eisbergs. Der große Rest bleibt unentdeckt, weil sich Opfer vor der Polizei ausschweigen, um ihr Leben nicht zu riskieren.

Polizei ist machtlos

Diesen Schweigekartellen stehen die Ermittler meist machtlos gegenüber, vor allem bei der Russenmafia. Deren herausragende Merkmale waren bislang der bedingungslose Zusammenhalt und die komplette Abschottung nach außen. Im "Heiligen Abschtschjak", wie die Bandenmitglieder ihr Sozialsystem nennen, ist es bereits verboten, ein Wort mit einem Polizisten zu wechseln. Wer sogar einen Kameraden verrät, begibt sich in Lebensgefahr. Doch die Ermittler sind auf solche Zeugen angewiesen. Nur sie kennen Hierarchien und Hintermänner, Gesetze und Geheimcodes der Banden.

So ungewöhnlich es also ist, einen Kronzeugen aus dem Milieu der Russenmafia zu gewinnen, so groß war der Erfolg, den die Staatsanwaltschaft Ingolstadt durch ihren Kronzeugen verbuchte. Denn kaum hatte Peter S. ausgesagt, legten fünf Männer Geständnisse ab - zwei vor der Großen Strafkammer, drei vor der Jugendkammer.

"Eine derartige Aussage dient natürlich auch der Verunsicherung der Szene", sagt Staatsanwalt Nicolas Kaczynski. Wenn das eherne Gesetz des Schweigens erst einmal gebrochen sei, so Kaczynski, dann leide darunter auch das Vertrauen der Drogenkuriere und Zwischenhändler zueinander.

Mit seiner Aussage gewährte Kronzeuge Peter S. den Ermittlern und der Öffentlichkeit neue Einblicke in das Innenleben solcher Drogenbanden. Die Kuriere bringen das Heroin aus Holland und deponieren es in öffentlich zugänglichen Bunkern wie etwa unter einem Steinhaufen am Fuße einer Brücke oder unter einem morschen Baumstamm im Wald. Von dort entnehmen es die Portionierer und stellen verkaufsfertige Päckchen von 2,5 bis 50 Gramm her.

Auseinandersetzung bei der Geldübergabe

Die sogenannten Soldaten, meist jüngere Männer, erhalten von den Bandenchefs Diensthandys, mit denen sie auf Abruf erreichbar sind. Wenn Zwischenhändler Nachschub brauchen, senden sie codierte SMS-Nachrichten - zum Beispiel mit zwei Ausrufezeichen oder dem Text "In fünf Minuten". Die Übergabe findet meist in konspirativen Wohnungen statt, was den Zugriff für die Polizei erheblich erschwert. Die "Soldaten" müssen ihre Erlöse bei den Rangoberen abgeben - dabei kommt es regelmäßig zu handfesten Auseinandersetzungen.

Die Bosse der Ingolstädter Bande sind noch nicht verurteilt - ihre Verfahren laufen noch. Im Zuge dieser Ermittlungen fing die Polizei 60000 Telefongespräche und Kurznachrichten ab. Mit dem Material hätten die Ermittler nichts anfangen können - erst Kronzeuge S. entschlüsselte SMS-Botschaften und ordnete Spitznamen ("Stas", "Vanja", "Wowtschik") den Bandenmitgliedern zu.

Diesen Coup bezeichnet auch Bernhard Egger, der Leiter des Dezernats Organisierte Kriminalität beim Landeskriminalamt, als "großen Schlag" im Kampf gegen die Russenmafia. "Aber ob die Vereinigung damit geschwächt wurde", so Egger, "das müssen wir noch abwarten."

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