Süddeutsche Zeitung

Krimiautor Jörg Steinleitner:Lug und Trug am Tegernsee

Millionärs-See oder Lago di Bonzo: Der Tegernsee hat viele wenig schmeichelhafte Spitznamen. In seinen Büchern lässt der Krimiautor Jörg Steinleitner die Idylle lustvoll bröckeln.

Von Rita Argauer, Tegernsee

An einem gelben Wegweiser beginnt die Fiktion. Hinter dem Schild, das den Wanderweg auf die 1444 Meter hohe Baumgartenschneid ausweist, beginnt der Wald. Und in diesem Wald, hoch über dem Tegernsee, lässt der Krimiautor Jörg Steinleitner in seinem jüngsten Werk "Hirschkuss" allerhand Dinge geschehen, die man dort am idyllischen, aber auch sehr reichen See vielleicht nicht so gerne hat.

Immer wieder taucht diese Weggabelung hinter dem Leeberghof im Ort Tegernsee im Buch auf. Denn abseits des Tatorts beginnt dort auch die tägliche Joggingroute von Steinleitners Protagonistin, der Polizeihauptmeisterin Anne Loop. Ganz real steht dieser Hof dort, der im Buch ein Wellnesshotel ist, mit seinem sanft grünen Fassadenanstrich und den zwei großen Hirschgeweihen, die den hölzernen Balkon über dem Eingang symmetrisch umrahmen.

Wie im Buch beschrieben, leicht erhöht mit Panorama-Blick und angrenzendem Wald samt Wanderroute. Ein hübscher Ort, vor allem wenn sich die Sonne aus den Wolken schiebt und den See glitzern lässt.

Die Abgründe, die Steinleitner in diesen Wald hineingeschrieben hat, die gibt es auf dem friedlichen Wanderweg, der dort mit den gelben Schildern beginnt, freilich nicht. Zumindest ist bisher nicht bewiesen worden, dass dort noch immer gewildert wird und der Milzbrand herrscht.

Dass dieser Wald dort von einem Düsseldorfer Investor gekauft wurde, der ebendort dem Milzbrand erliegt. Dass eine Münchner Bankerin da verendet und dass die Holzarbeiter dort Recht und Gerechtigkeit nach ihren eigenen Regeln definieren. Ja, diese Abgründe, hinter der Idylle um den See herum, die sind Steinleitners Fantasie entsprungen, die Details zum Holzfäller-Geschäft haben ihm Holzarbeiter aus einem Wald hinter Garmisch erzählt.

Vielleicht. Denn so ganz traut der Autor der betuchten Idylle der See-Landschaft sowieso nicht. Vielmehr blickt er zu gerne hinter die Fassaden der reichen Anwohner, die auf ihren Grundstücken auch ein wenig nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten leben. Am Millionärs-See oder am Lago di Bonzo. Der Tegernsee hat viele wenig schmeichelhafte Spitznamen, die darauf hindeuten, dass die Wohnkosten dort für Normalverdiener fast nicht tragbar sind: "Viele, die hier in normalen Berufen arbeiten, wohnen nicht hier", sagt Steinleitner, "die könnten sich das gar nicht leisten." Er wirkt ein wenig echauffiert, all das Mondäne und die dichte Bebauung, damit hat er eher ein Problem.

Witz und Spaß am Klischee

In vier Krimis hat der im Allgäu geborene Autor die Idylle bisher lustvoll bröckeln lassen. Doch Steinleitner ist kein Pedant, keiner, der mit düsteren Sozialstudien die oberbayerischen Postkartenmotive auseinandernimmt. Steinleitner schießt subtiler. Denn er hat einen gewissen Witz, er hat Spaß am Klischee und an der Überzeichnung.

"Wenn hier eine Frau im teuren Leoparden-Print-Mantel und mit blondierten Haaren entlangstöckelt, dann wirkt das wie ein Klischee, ist aber durchaus Realität", sagt er an der Straßenkreuzung, an der das Tegernseer Bräustüberl liegt, und grinst. Ja, er hat Spaß daran, dort ein bisschen auf den Prada-Schlipsen der Anwohner herumzutreten.

Seine Figuren wirken dementsprechend erst einmal ein wenig holzschnittartig. Da ist Anne Loop, die Polizeihauptmeisterin, eine Rheinländerin, die aussieht wie Angelina Jolie und in der kleindörflichen Polizeiwache in Bad Wiessee anfängt. Zur Seite gestellt bekommt sie ihren Chef Kurt Nonnenmacher, einen gleichsam sentimentalen wie jenseits sämtlicher political correctness derben Urbayern. Und den Kollegen Sepp Kastner, etwas infantil, aber sensibel.

Als Gegensatz zu den stereotypen Figuren, ist Steinleitner in den Ortsbeschreibungen umso genauer. "Ich schreibe ja keine Wanderführer", sagt er noch in Gmund zu Beginn der Tour - doch die Orte, die man aus den Romanen herauspickt, führen einen an bekannte, ikonische und unerwartete Ecken rund um den See. Da taucht sowohl ein kleiner kupfer-grün bedachter Pavillon auf, an dem sich früher der Pranger befand, an dem vor etwa hundert Jahren der letzte Wilderer stand. Da fährt man in Gmund an der Raiffeisenbank vorbei, die in seinem vorletzten Anne-Loop-Krimi "Räuberdatschi" ausgeraubt wurde.

Da läuft man zum wunderschönen Bungalow, den Sep Ruf im Auftrag von Ludwig Erhard auf dem Ackerberg in Gmund hat bauen lassen und in dem in Steinleitners Buch der Holzinvestor wohnt, weshalb der Autor selbst wie ein Einbrecher im Garten herumgestrolcht sei, um die Details für den Einbruch seiner Kommissarin zu erfahren. Oder da sitzt man in der Klosterkirche in Tegernsee, in der Anne Loop krimitypisch der Beerdigung eines Opfers beiwohnt und blickt auf eine Inschrift auf der Kirchenbank, die auch im Buch auffällt: "Niederbronner Schwestern".

Wer die waren, weiß Steinleitner nicht, dass das, was im Buch beschrieben steht, aber so auch in der Realität da steht, da ist er sicher: "Ich habe eine gewisse Liebe zur Genauigkeit." Deshalb sei auch der Tegernsee als Schauplatz für ihn nicht willkürlich gewesen. Die Familie seiner Mutter stammte von hier, seine Urgroßmutter ist am See geboren, und bis vor Kurzem habe noch eine Großtante von ihm im Ort Tegernsee gewohnt, "dort drüben, in dem gelben Haus", erklärt er. Und hier auf dem Parkplatz, der direkt zum See hinunterführt, habe das Haus seiner Familie gestanden.

Steinleitner mag diese Recherchen. Für seine Bücher verbringt er Zeit vor Ort, erfindet und findet "Leute, die einem diese Geschichten zugänglich machen", wie er es ausdrückt. Auch seinen persönlichen Bezug zu diesem See hat er ins Buch hineingeschrieben. In "Hirschkuss" wird einer der Toten auf dem Tegernseer Friedhof begraben. Im zehnten Grab in der dritten Reihe. Wenn man das in real abzählt, steht man vor einem Grabstein, der den Ort als das Familiengrab der Familie "Reiser" auszeichnet: Steinleitners Verwandtschaft.

Dennoch sind die Ortsbezeichnungen in "Hirschkuss" eher spärlich. Es ist von einem "Bergsee" die Rede, die Gemeinden werden nur ihren Himmelsrichtungen zugeordnet, nur ein paar kleine Hinweise bekommt der Leser, etwa die Namen der Berge oder der Almen. Steinleitner habe ein paar Probleme mit den Anwohnern gehabt. Ja, denn er stichelt gerne.

Zoo mit exotischen Hühnerarten

Und so ließ er einen ortsansässigen "Millionario" (der Lieblingsausdruck des Polizei-Dienststellenleiters Nonnenmacher für seine reiche Nachbarschaft) einen illegalen Hubschrauber-Landeplatz auf seinem Grundstück betreiben, "rein fiktiv", wie Steinleitner betont, bis er herausfand, dass diese Vorstellung gar nicht so fiktiv war. Deshalb ist der Ort nun in den letzten Anne-Loop-Krimis ein bisschen verklausuliert. Aber durchaus entschlüsselbar.

Und das ist im Falle der Hafner-Alm Fluch und Segen zugleich. Denn die, hinter Rottach-Egern den Berg hinauf gelegen, die ist nun überhaupt nicht mehr im Touri-Millionario-Chic. Die beherbergt etwas versteckt einen verrückten Zoo mit exotischen Hühnerarten, einem Wolfshund und allerhand anderen Tieren, die durch den Garten streifen, während man auf der Terrasse sitzt und in den Wald hineinblickt.

Erbaut vom Naturfilmer Otto Dix 1935, hatte der dort jahrelang ein Café betrieben. Das erfährt man auch in "Hirschkuss", auch, dass es dort ein Schnitzel gibt, unter dessen Panade sich eine Schicht Meerrettich verbirgt, was dem Fleisch eine "wildererhafte Schärfe" verleihe. Eine Schärfe, die dieses geschleckte Tal an manchen Stellen noch hat. Und die man in Steinleitners Krimis zu finden vermag.

Zur Person

Jörg Steinleitner ist 1971 in Immenstadt im Allgäu geboren, zog jedoch im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern nach Paris. Die Familie kehrte 1980 ins Allgäu zurück, nach dem Abitur zog er zum Studium nach München. In ähnlichem Zick-Zack fand er zu seinem Schriftsteller-Beruf: Er studierte Deutsch und Geschichte fürs Lehramt, hängte ein Jura-Studium an und absolvierte die Journalistenschule der Donau-Universität in Krems bei Wien. Er arbeitete als Anwalt, Radiomoderator und Journalist, bevor er 1998 gemeinsam mit Matthias Edlinger seinen ersten Roman veröffentlichte. Mit dem Doku-Krimi "Der Fall Augustin Stiller", den er auch im SZ-Magazin veröffentlichte, klärte er 2007 auch den zugrunde liegenden realen Fall auf, 2010 erschien mit "Tegernseer Seilschaften" der erste Anne-Loop-Krimi. Gerade hat der in Riegsee lebende Familienvater gemeinsam mit seiner Tochter das Kinderbuch "Juni im Blauen Land" veröffentlicht. arga

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Quelle:
SZ vom 07.09.2016/amm
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