Süddeutsche Zeitung

Kreuz & quer durch Bayern:Rivalisierende Schwestern

Miltenberg und Bürgstadt, beide stark mittelalterlich geprägt, pflegen seit Jahrhunderten eine gewisse Hassliebe. Sehenswert sind aber beide.

Von Ralf Scharnitzky, Miltenberg/Bürgstadt

Das ist ein Stoff, aus dem antike Dramen und historische Fehden geschnitzt sind - die jüngeren Geschwister, die den Erstgeborenen den Rang ablaufen. Ganze Familiendynastien sind dadurch ins Wanken geraten. Aber auch in Bürgergesellschaften kann so etwas zu Verwerfungen führen. Wie zwischen Miltenberg und Bürgstadt, die ineinander verwobenen Kommunen in Churfranken: "Je näher der Nachbar, desto größer die Feindschaft", fasst der Leiter der Landkreisredaktion des Main-Echos, Georg Kümmel, die Hassliebe zusammen. Sehenswert sind beide - die Kreisstadt Miltenberg und der Markt Bürgstadt.

Ein wenig anschaulich macht den Aufstieg und Niedergang der beiden idyllisch am Main gelegenen mittelalterlich geprägten Ortschaften ein Mann: Leonhard Gackstatt. Er hat in beiden Orten Spuren hinterlassen, auf die in jeder Touristenführung hingewiesen wird. Bürgstadt, erstmals 1181 urkundlich erwähnt, war Centgrafensitz. Zwischen 1616 und 1630 fielen dort 91 Menschen den Hexenverfolgungen zum Opfer. 1628 stifteten Gackstatt, als Centgraf von Amts wegen Richter in den Prozessen, und seine Ehefrau einen neuen Hochaltar für die Martinskapelle, um die Bürger und die Inquisition gnädig zu stimmen: Brigitta Gackstatt war selbst ins "Geschrei" gekommen; das Volk hatte sie zur Hexe gestempelt. Gelebt haben der Centgraf und seine Gemahlin allerdings im 1273 erstmals urkundlich erwähnten Miltenberg, am Schnatterloch. Bürgstadt verlor im späten Mittelalter viel von seiner Bedeutung an das benachbarte Miltenberg, das strategisch günstiger lag und durch eine Burg geschützt war. Mitte des 19. Jahrhundert bekam Miltenberg dann auch das Bezirksamt - Bürgstadt lag nun in dessen Verwaltungsgebiet. Die jüngere Schwester hatte die ältere endgültig überrundet.

Das Schnatterloch, mit dem Centgrafenhaus aus dem Dreißigjährigen Krieg, ist die Sehenswürdigkeit in Miltenberg schlechthin. Ältere Semester werden sich an "Das Wirtshaus im Spessart" erinnert fühlen - hier fanden in den Fünfzigerjahren Aufnahmen für den Film mit Lilo Pulver und ihren Spießgesellen statt. Heute zählt der historische Marktplatz zu den am häufigsten fotografierten Stadtansichten Deutschlands. Was auch daran liegt, dass fast das ganze Jahr über täglich mehrere Schiffsladungen an Touristen - vor allem Amerikaner und Japaner - hier vorbeigeschleust werden. Miltenberg gehört zu den Höhepunkten jeder Main-Kreuzfahrt. Es sind nicht nur die historischen Ereignisse, die sich in teils aus dem 14. Jahrhundert stammenden Fachwerkhäusern abspielten, auf die Gästeführerin Dorothea Zöller an dieser Stelle immer hinweist: Auch ein Vorfall in der Stadtpfarrkirche St. Jakobus macht "viele Miltenberger stolz", so Zöller. 2006 ließ der Pfarrer einmal 20 Minuten lang die Glocken läuten - und verhinderte so die Kundgebung einer NPD-Jugendorganisation auf dem historischen Platz.

Eine Kirche spielt auch in Bürgstadt eine herausragende Rolle: die Martinskapelle, die als Urpfarrei des südwestlichen Mainvierecks gilt und wohl um 950 errichtet wurde. Ihre heutige Gestalt erhielt sie um 1590. Im krassen Gegensatz zur einfachen Architektur des Innenraums steht der Detailreichtum der Wandmalereien: 40 Medaillons, die 1593 angefertigt wurden, zeigen Szenen des Alten und Neuen Testamentes. Auch der Kreuzweg aus Hinterglasbildern, der um 1830 im oberbayerischen Staffelseegebiet gefertigt worden sein dürfte, ist wegen seiner 15 Stationen bemerkenswert - die überzählige Station zeigt die Auffindung des wahren Kreuzes durch die hl. Helena, der Mutter Konstantin des Großen. Die Kapelle wird vom Heimat- und Geschichtsverein betreut.

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Mit und von ihrer Geschichte leben beide Kommunen ganz gut. Vor allem aber Miltenberg tut sich schwer mit der Gegenwart. Der Vorteil von früher ist jetzt ein Nachteil. Landschaftlich wunderschön gelegen zwischen Mainufer und den Hängen des Odenwalds, hat die Stadt wenig Entwicklungsmöglichkeiten: Es fehlen Flächen für Gewerbe und Industrie sowie für den Wohnungsbau. Wirtschaftskraft und damit Arbeitsplätze sind in den Norden des Landkreises abgewandert, in die in weiträumigen Landstrichen liegenden Kommunen nahe Aschaffenburg und Frankfurt. Im städtebaulichen Entwicklungskonzept heißt es ungeschönt: "Kennzeichnend für Miltenberg ist eine tendenziell rückläufige Bevölkerungsentwicklung; auch die Zahl der Beschäftigten hat in den letzten Jahren fast kontinuierlich abgenommen." Mit Folgen auch für die historische Altstadt: Läden und Wohnungen stehen leer, ein "schleichender Funktionsverlust", wie Stadtentwickler das nennen. Gleichzeitig gewinnt die ältere Schwester wieder an Bedeutung. Inzwischen wohnen, anders als der Centgraf, viele Miltenberger in Neubaugebieten in Bürgstadt.

Für die Tipps bedanken wir uns bei Brigitte Duffeck aus Miltenberg und Bernhard Stolz aus Bürgstadt.

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SZ vom 13.10.2015
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