Kratzers Wortschatz:Weltstadt ohne Herz

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"Tja", heißt es heutzutage oft arrogant. Ja mei!

Kolumne von Hans Kratzer

Ja mei!

In München wollte neulich eine junge Mama mit ihrem Kinderwagen in eine Tram einsteigen. Sie war auf dem Weg zur Tagesmutter, wo sie pünktlich ihr zweites Kind abholen sollte. In jeder Tram ist am hinteren Ende ein Kinderwagen-Stellplatz reserviert. An jener Stelle drängten sich aber viele Menschen, dabei wäre der ganze Gang frei gewesen. Die junge Frau bat deshalb die Fahrgäste, doch bitte in den Gang weiterzugehen, damit sie mit ihrem Gefährt einsteigen könne. Sie bekam aber nur zu hören: "Fahren Sie doch mit der nächsten Tram!" "Ich muss aber mit dieser fahren", entgegnete sie verzweifelt, "sonst komme ich zu spät zur Tagesmutter." "Tja!", rief ihr ein Mann arrogant entgegen, die Tür wurde geschlossen, die Tram fuhr ohne die junge Mama weiter. So schaut die Realität in einer Stadt aus, in der zunehmende Rücksichtslosigkeit um sich greift. Ich, ich, ich! Das ist die oberste Devise. Schade ist auch, dass das blasiert klingende Wörtlein "Tja" im Begriff ist, den alten Münchner Schicksalsbegriff "Ja mei" zu verdrängen. Ja mei bedeutet: Man muss sich fügen, man kann dem Schicksal nichts entgegensetzen, der Stärkere setzt sich durch. Idealtypisch kam diese Haltung in einem Interview mit dem Satiriker Gerhard Polt vor gut zehn Jahren zum Ausdruck. Die SZ fragte ihn: "Sie treten seit 30 Jahren auf und protestieren gegen CSU, Gewerbegebiete, Umweltzerstörung. Was hat's gebracht?" Polt antwortete: "Ja mei!"

Letz vertreiben

Vor einiger Zeit wurde an dieser Stelle das Adjektiv letz genannt, das schon beim Hören schlechte Laune hervorruft. Über eine Person, die lustlos ihre Arbeit verrichtet, sagt man: Dem oder der ist alles zu letz. Drückt sich die Unlust im Mienenspiel aus, dann heißt es: Mei, hat's der aber letz! Letz bedeutet lästig, aber auch schlecht drauf sein. Leser Richard Unterauer schickte uns dazu eine nette Anmerkung: "Meine Großmutter bekam von ihrem Doktor eine Medezieh (Medizin) verschrieben, die war so letz, dass oan scho beim Riacha gwiagt (gewürgt) hod. Der Arzt meinte: Ja mei, Muadda, Letz muaß Letz vertreim."

© SZ vom 09.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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