Süddeutsche Zeitung

Kratzers Wortschatz:Sundersieche, Marode, und wenn oiss feit

Seuchen und Viren bedrohen die Menschheit seit jeher. Dieses Phänomen hat auch in der Sprache und im Dialekt deutliche Spuren hinterlassen

Kolumne von Hans Kratzer

Sundersieche

Zu allen Zeiten wurde die Menschheit von Seuchen und ansteckenden Krankheiten heimgesucht. Im späten Mittelalter bezeichnete man Menschen, die an solchen oft unheilbaren Krankheiten litten, namentlich an der Lepra, als Sundersieche. Sie wurden, um andere nicht anzustecken, mit ihresgleichen in abgesonderte Häuser gesteckt. Für die Münchner Sundersiechen gab es solche Anstalten auf dem Gasteig und "ze Swäbingen", wie man das Dorf Schwabing anno 1425 nannte. Wie bei Schmeller nachzulesen ist, sah man in München am Ende des 18. Jahrhunderts die Sundersiechen in schwarzen Mänteln und spitzen Hüten Almosen sammeln. Die Szenerie muss gespenstisch gewesen sein. Sie klapperten nämlich mit Klapphölzern und sagten in singendem Ton ihren durchdringenden Spruch auf: "Gebts, gebts, weils lebts! Wennts nimmer lebts, könnts nimmer gebn, gebts gebts, weils lebts!" Auch in Nürnberg gab es Sundersieche (Sondersieche), das waren jene alten, gebrechlichen Leute, die in den vier Siechköbeln vor der Stadt hausten, die ursprünglich für Aussätzige gestiftet worden waren.

marod

Fieber, trockener Husten, Kopfschmerzen, solche Symptome deuten auf eine Infektion mit dem Coronavirus hin. Wer das Virus aufgeschnappt hat, fühlt sich mehr oder weniger krank, in Bayern verwendet man für diesen unguten Zustand auch das Adjektiv marod. Es ist ein Lehnwort aus dem Französischen, davon gibt es eine ganze Reihe im bairischen Wortschatz, beispielsweise Allée, Bagasch, Gendarm, Vakanz, pressieren, leger, merci, Billett oder sakradi. Allerdings ist die Zahl derer, die solche Wörter noch verstehen, ziemlich geschrumpft. Die französischen Einsprengsel aus alter Zeit müssen heutzutage den Anglizismen weichen. Eine Kollegin erzählte, sie habe wegen eines Termins beim Arzt angerufen und, weil es auf dem Land war, habe sie sich mit dem Mädchen am Empfang im Dialekt ausgetauscht: "Kannt i bitte an Termin haben, i bin marod." Als die Kollegin in der Praxis eintraf, sagte das Mädchen am Empfang: "Aber jetz hob i am Telefon ned ganz verstanden, wos dir feit?" (was dir fehlt). Das Wörtlein marod war ihr kein Begriff. Die Kollegin sagte nur: "oiss!" (alles), denn sie fühlte sich ganzheitlich matt und kränkelnd, war aber vom Coronavirus zum Glück noch verschont.

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Quelle:
SZ vom 01.04.2020
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