Kratzers Wortschatz:Staffeln verbleichen, Lawinen knarratzn

Auf den Landshuter Martinsturm führen fast 500 Staffeln hinauf. Überlegungen zu einem alten, ehrbaren, geschichtsträchtigen Wort, das junge Menschen leider nicht mehr verstehen

Staffeln

Zum Schicksal eines Zeitungsredakteurs gehört es, dass ihm Kolleg(-inne)n seinen Alterungsprozess täglich gnadenlos vor Augen führen. Als ein Autor neulich in einer Geschichte über die Landshuter Martinskirche das Wort Staffeln verwenden wollte, weil fast 500 solcher Staffeln auf den Turm hinaufführen und weil das Wort zu den mittelalterlichen Mauern so gut passt, da protestierte das redaktionelle Jungvolk. Es wisse nicht, was Staffeln seien, das Wort müsse also unbedingt durch den Begriff Treppe ersetzt werden. Auf ein solch ehrbares, farbiges, geschichtsträchtiges Wort wie Staffel zu verzichten, das ist schon hart. Zumal da es in der Literatur viele Belegstellen gibt, etwa in Benno Hubensteiners Aufsatz "Romantik in Landshut: ". . . eilte man die Staffeln zur Burg hinan." Andrea Maria Schenkel schrieb in ihrem Roman "Täuscher": "Komm, wir setzen uns ein bisserl auf die Staffeln dort . . ." Dass das nun keiner mehr versteht, ist wohl ein Fingerzeig: Für alte Staffel-Redakteure wird es Zeit, ihren Platz zu räumen.

knarratzn

In einer orthopädischen Praxis hat sich neulich ein kreuzlahmer Patient zwecks Untersuchung mühsam auf eine Liege gequält. Doch siehe da, diese gab bei diesem Prozess ein ächzendes Geräusch von sich, als öffne sich ein rostige Tür in einem Gruselfilm. Die medizinische Assistentin gab den beruhigenden Hinweis: "Oh, nicht erschrecken, die knarratzd!" Der des Bairischen mächtige Patient verstand, was gemeint war, aber in diesem Fall hätte auch ein im Standarddeutschen beheimateter Patient kapiert, was knarratzn bedeutet. Im Standarddeutschen klingt das Verb ja ähnlich: knarren, knarzen. Ein Synonym für knarratzn lautet garatzn. Es gibt noch einige weitere Verben mit den mittelhochdeutschen Endungen -atzn und -etzn, etwa nofetzn, ein Synonym für dösen und schlummern. Wenn ein lebenserfahrener Bergbewohner sagt, er höre auf den Anhöhen ein Achatzn und Knarratzn, dann ist es höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Auf diese Weise kündigt sich nämlich häufig der Abgang von Lawinen an.

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