Süddeutsche Zeitung

Kratzers Wortschatz:Der König mochte keine Rossbollnfinger

Dass der weltberühmte König Ludwig II. posthum einen Beitrag zu dieser Kolumne leisten würde, hätten wir nicht für möglich gehalten. Umso erfreulicher, dass es dank eines vor fast 60 Jahren gehaltenen Interviews mit einem seiner Diener geklappt hat

Auszogne

Bei dem Wort Auszogne (Ausgezogene) fällt der Herrenwitzfraktion vermutlich die unter den Maßstäben heutiger Korrektheit anrüchige Geschichte vom Jäger ein, der einem in einem Waldsee badenden Mädchen zurief, dort sei das Baden verboten. Warum er ihr das nicht vorher gesagt habe, wollte sie wissen, daraufhin er: "Das Ausziehen ist ja nicht verboten!" Zum Glück gibt es auch sittlich akzeptierte Auszogne. Zum Beispiel ein Traditionsgebäck, das gerne zum Kirchweihfest dargereicht wird. Es handelt sich um goldbraun herausgebackene Küchel (Kiache) aus Hefeteig, die durch das Ausziehen (Auseinanderziehen) des Teigs innen dünn und außen wulstig werden. Die Franken sagen auch Knieküchle dazu, weil die Bäuerinnen den Teig angeblich über dem Knie so ausgezogen haben, bis er in der Mitte hauchdünn war. Man sollte durch ihn hindurch einen Liebesbrief lesen können. Manche halten die Knieversion für einen Schmarrn. Eine Expertin sagte neulich, das habe man nur jenen Unbedarften erzählt, die auch an die Existenz von Wolpertingern glauben. Denen könne man auch weismachen, dass man Knödel unter der Achsel rollen müsse, damit sie rund werden. Auszogne bestreut man mit Puderzucker, wobei die Franken katholische (Mulde bestreut) und evangelische Küchle (Wulst bestreut) kennen.

Rossbollnfinger

Wer hätte es für möglich gehalten, dass sogar König Ludwig II. einen Beitrag zu dieser Kolumne beisteuern würde. Im BR-Archiv schlummert ein Film aus dem Jahr 1964, in dem der damals 98-jährige Fritz Schwegler über seine Dienstzeit beim König erzählte. Einmal habe er ihm Forellen serviert. Die Tür habe beim Reintragen aber gegen die Platte geschlagen, die Fische verdrehten sich. "De ham an Schwanz hintnaus glegt", sagte Schwegler. Also wendete er sie wieder um. Der König klagte: "Du mit deine Rossbollnfinger, da mag ich keine Forellen." Er spielte darauf an, dass Schwegler als Vorreiter auch mit Pferden zu tun hatte, was man vermutlich roch. Immerhin belegt das Wort Rossbollnfinger, dass sich der König bildmächtig im Dialekt ausdrücken konnte. Rossbollen sind Pferdeäpfel. In die Rossbollen hineinzufallen oder mit ihnen Gegner zu bewerfen, gefiel früher jedem Kind. Dem König missfielen die Rossbollnfinger natürlich schon.

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Quelle:
SZ vom 15.10.2020
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