Süddeutsche Zeitung

Kommunalwahl:Würzburger Wähler lieben Überraschungen

Die Universitätsstadt am Main prägt seit 30 Jahren ein Spezifikum: Kein Favorit kann sich bei einer Kommunalwahl seiner Sache sicher sein.

Von Olaf Przybilla

Es gibt da diese Studentenstatistik, mit der man selbst eingefleischte Mainfranken immer noch verblüffen kann. Andere ohnehin. Dass Würzburg der Sitz einer nicht kleinen Uni ist, das wissen noch die meisten. Dass dort eine der ältesten Unis Deutschlands und die älteste Universitätsgründung auf bayerischem Boden ihre Heimat hat, wissen schon weniger. Und damit nicht genug: Diejenigen, die es sehr genau wissen, die Professoren, klagten vor noch nicht allzu langer Zeit, dass den Wissenschaften in der Stadt am Main zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. "Würzburg ist keine Universitätsstadt", flüsterte mal ein Hochschullehrer der SZ zu, "Würzburg ist eine Stadt mit Universität". Ein feiner Unterschied, fand der Professor, aber ein entscheidender.

Tempi passati. Heute dürfte sich kaum mehr ein Hochschullehrer finden, der einem so etwas in den Block diktiert. Aber der nicht geringe Makel, dass so ziemlich jeder die sogenannten klassischen Universitätsstädte der Republik aufzählen kann - Freiburg etwa oder Münster und Heidelberg -, aber in dieser Kategorie wohl den wenigsten Würzburg auf einem der vorderen Plätze einfiele, dieser Makel ist geblieben. Rational begründbar ist das nicht - betrachtet man die anfangs erwähnte Statistik.

Der zufolge gibt es 81 deutsche Großstädte, also Kommunen mit mehr als 100 000 Einwohnern. In nur einer davon - in Göttingen - liegt die Studis-pro-Einwohner-Quote höher als in Würzburg. In der 130 000-Einwohner-Stadt am Main sind an den drei staatlichen Hochschulen nahezu 35 000 Studenten eingeschrieben, was einem Anteil von etwa 27 Prozent entspricht. Freiburg, Münster und Heidelberg können da statistisch nicht mithalten. Und in Bayern auch niemand: nicht Regensburg, Erlangen nicht und München ohnehin nicht. Wer in einer klassischen, von möglichst vielen Kommilitonen geprägten Großstadt in Süddeutschland studieren möchte - der müsste sich, rein statistisch gesehen, in Würzburg einschreiben.

Was das mit der Kommunalwahl zu tun hat? Auf den ersten Blick mag man sich das fragen. Aber wirklich nur auf den ersten. Als bei der Landtagswahl im Oktober 2018 ein Grüner in Würzburg als einziger Nicht-CSUler außerhalb Münchens ein Direktmandat errang, wollten viele wissen: warum ausgerechnet dort? Die Stadt in Unterfranken gilt vielen Nicht-Würzburgern noch immer als klassisches Bischofsquartier, das von der Autobahnbrücke ausschaut wie eine pittoreske Ansammlung katholischer Gotteshäuser.

Diese Stadt hatte vor nicht allzu langer Zeit als "Weinfass an der Autobahn" von sich Reden gemacht, sogar "Provinz auf Weltniveau" ließ sich mal jemand einfallen - und meinte wohl, der Stadt damit Gutes zu tun. Solche Etiketten bleiben kleben. Und nun nimmt da ein Grüner dem profilierten CSU-Abgeordneten Oliver Jörg, der regelmäßig als Kabinettsmitglied gehandelt wurde, einfach das Direktmandat ab?

Vor der Landtagswahl 2018 vertraten die Stadt Würzburg traditionell sogar zwei CSU-Abgeordnete in München: der Direktkandidat und die Landtagspräsidentin Barbara Stamm als Listenkandidatin. Seit 2018 hat die CSU nun gar keinen Würzburger Vertreter mehr im Landtag. Ohne von der rasanten Entwicklung der Würzburger Hochschulen und das damit immer stärker werdende grün-akademische Milieu zu wissen, dürfte das kaum zu verstehen sein.

Auch nicht, dass viele die OB-Wahl in Würzburg für absolut offen halten. Verblüffen mag einen das schon: Oberbürgermeister Christian Schuchardt, 2014 ins Amt gewählt, gilt zwar nicht als notorischer Großcharismatiker. Aber der in Frankfurt geborene Verwaltungswissenschaftler und CDU-Mann hat die Stadt in den sechs Jahren seiner Amtszeit souverän und ohne nennenswerte Ausrutscher geführt.

Selbstverständlich ist das nicht: Würzburg war noch vor 17 Jahren Bayerns erste Stadt ohne genehmigungsfähigen Haushalt, die kommunalpolitische Krisenregion des Freistaats schlechthin. Davon, vom Krisenmodus, sind sie in Würzburg inzwischen meilenweit entfernt - und reiben sich die Augen, wenn sie in eine andere bayerische Kommune blicken, die jedenfalls nach ihren äußeren Rahmendaten ziemlich ähnlich ist: Regensburg ist ebenfalls Bezirkshauptstadt mit großer Geschichte, eine ebenfalls katholisch geprägte Unistadt und vergleichbar groß. In der Vergangenheit schwang beim Blick nach Regensburg mitunter eine Portion Neid mit in Würzburg, wegen des Booms an der Donau. Derzeit würden die wenigsten tauschen wollen. In Sachen skandalträchtige Schlagzeilen ist Würzburg klar zurückgefallen.

Ein Oberbürgermeister ohne Ausrutscher? Das bringt Martin Heilig, 44, den Kandidaten der Grünen, etwas in Rage. "Wer wenig macht, macht halt auch wenig falsch", falle ihm da spontan ein. Wobei die Grünen schon auch zufrieden waren mit dem einzigen CDU-OB einer bayerischen Großstadt, als der in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 klar Flagge zeigte gegen populistische Parolen der Schwesterpartei. Diese Entschlussfreudigkeit aber, findet Heilig, lasse Schuchardt sonst missen.

Augenscheinlich wurde das kürzlich auf einem Podium aller OB-Kandidaten, als die Diskutanten mit roten oder grünen Kärtchen signalisieren sollten, ob sie für höhere Parkgebühren in der Innenstadt sind. Alle Kandidaten hoben rasch die entsprechende Karte. Am Ende warteten alle auf Schuchardt, der grübelte und sich offenbar nicht entscheiden konnte. "Einmal Farbe bekennen, Herr Oberbürgermeister", stichelte daraufhin Heilig, "nur einmal Farbe bekennen". Am Ende rang sich der OB dazu durch, gegen eine Gebührenerhöhung zu sein. Anders als Heilig. Schuchardt legt Wert darauf, die gesellschaftlichen Gruppen der Stadt wie auch die Verkehrsteilnehmer "nicht gegeneinander auszuspielen", erklärt er sein Zögern.

Ohne das Wort von der "Klimakrise" kommt der Wahlkampf wohl nirgends aus derzeit, in Würzburg aber hat das Thema noch eine andere Dimension. Martin Heilig nimmt Würzburg sogar als einen "Hotspot der Klimaerwärmung" wahr. Würde die Stadttemperatur an einem der tieferen Punkte des Talkessels gemessen, so läge die Stadt in den sommerlichen Rekorderhitzungsstatistiken vorne, ist sich der Grüne sicher. Heilig, der bislang als Lehrer arbeitet, hat lange in einem der engen Stadtteile gelebt, in Grombühl, "da staut sich die Luft, da kühlt nichts mehr ab", berichtet er.

Während Heilig die Autos weithin raushalten will aus dem Zentrum, sieht der OB zwar auch die Notwendigkeit, den öffentlichen Nahverkehr weiter zu stärken - will aber auch die Autofahrer nicht vergrätzen. "Wir kämpfen hier um Lebensqualität", formuliert Heilig. Schuchardt, 51, würde das in so drastischem Tonfall nicht über die Lippen gehen. Aber dass die "Kessellage" nicht wegzudiskutieren ist und die Stadt längst Konsequenzen daraus gezogen hat, darauf verweist er. Die Feinstaubwerte seien zuletzt gesunken in Würzburg, sagt Schuchardt. Den "Klimanotstand" auszurufen, ist seiner Ansicht nach das falsche Mittel. Er bevorzuge "Klimaversprechen", das vermeide die "Vergeblichkeitsfalle".

Und die SPD? Keine andere Partei hat die kommunalpolitischen Geschicke der Stadt in der Nachkriegsgeschichte so geprägt wie die Sozialdemokraten. Als der damalige SPD-OB Klaus Zeitler vor 30 Jahren nicht mehr antrat, markierte das eine politische Zäsur, die bis heute andauert. Seither - ein Würzburger Spezifikum - darf kein Favorit mehr sicher sein, tatsächlich gewählt zu werden.

Barbara Stamm musste das als Erste erleiden. Sie erlitt 1990 eine bittere Niederlage gegen Jürgen Weber, ihren ehemaligen Parteifreund, der aber aus der CSU ausgetreten war und auf einer eigenen Liste kandidierte. Völlig überraschend unterlag Weber zwölf Jahre später gegen die bis dato kaum bekannte CSU-Kandidatin Pia Beckmann. Diese wiederum musste 2008 eine ebenso bittere wie sensationelle Niederlage gegen einen 61-Jährigen SPD-Mann ohne nennenswerte kommunalpolitische Erfahrung einstecken: Georg Rosenthal. Nachdem der altersbedingt für nur eine Amtszeit kandieren konnte, setzte sich anschließend Schuchardt durch, dessen Antritt schon eine Besonderheit war: Er kandidierte eben als CDUler mitten in Bayern. Und blieb das auch nach seiner Wahl.

Das alles bedeutet, dass politische Orakel ziemlich blöd ausschauen können, schließen sie Überraschungen bei OB-Wahlen in Würzburg aus. Und so sagt auch Kerstin Westphal, 57, die ihre politischen Wurzeln in Schweinfurt hat: "Ich möchte OB von Würzburg werden." Ihre Kandidatur wäre wohl lange gar nicht denkbar gewesen; Würzburg und Schweinfurt sind sehr unterschiedlich und galten lange als unerbittliche Rivalen. Jetzt will Westphal sogar Kapital aus ihrer Herkunft schlagen: Die Unistadt und die Industriestadt könnten viel enger zusammenarbeiten, sagt sie, schließlich hätten beide spezifische Stärken und drohten, von der Nürnberger Metropolregion im Osten und der Frankfurter Metropolregion im Westen regelrecht zerrieben zu werden. Westphal war zehn Jahre lang Abgeordnete im Europaparlament, der "Europastadt Würzburg" könnte auch das gut zu Gesicht stehen, findet sie.

Ob der OB in die Stichwahl muss? In der Union hoffen viele darauf, dass sich das "links-ökologische Kandidatenspektrum kannibalisiert", wie einer formuliert. Immerhin schicken auch Linke und ÖDP Kandidaten ins Rennen, während die AfD darauf verzichtet. Wem der OB zu liberal ist, bleibt da nur der Kandidat der Freien Wähler, die aber nicht die Ausstrahlung haben wie die "Würzburger Liste" zu OB Webers Zeiten. Zur CSU wechseln will Schuchardt übrigens weiterhin nicht. In der CDU fühle er sich genau richtig aufgehoben, sagt er.

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SZ vom 27.02.2020/kaal
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