Süddeutsche Zeitung

Kommunalwahl in Bayern:Hier kaputte Straßen und leere Kassen, dort alles tipptopp

Haidmühle und Grainet - die Orte liegen nah beieinander und doch läuft das Leben sehr unterschiedlich ab. Eine Reportage über Möglichkeiten und Grenzen der Lokalpolitik.

Von Andreas Glas

Um nachzuschauen, wie es ihrer Gemeinde geht, muss Margot Fenzl den Kopf nur nach rechts drehen. Zum Fenster neben ihrem Schreibtisch. Man sieht: ein Haus, blassgrüne Fassade. "Ganz toll, gut bürgerliche Küche, sehr beliebt", sagt Fenzl. Was man noch sieht: einen Fleck in der Fassade, über der Eingangstür. Wo früher ein Schild hing, bröselt heute der Putz. Das Gasthaus Hochstein hat zugesperrt, vor zwei Jahren. "Wir kämpfen ums Überleben", sagt Margot Fenzl.

Fenzl, 57, ist Bürgermeisterin in Haidmühle, gut 1300 Einwohner, Bayerischer Wald. Eine Region, die immer mehr Touristen anzieht. Vergangenes Jahr haben im Bayerwald gut sieben Millionen Menschen übernachtet. Wanderer, Skifahrer, Wellness-Urlauber. Nur: Was hilft das einem Ort, dem die Betten ausgehen? Im Sommer hat der Haidmühler Hof dichtgemacht. Vier Sterne, 70 Betten. Im Herbst wird die Jugendherberge zusperren. 15 000 Übernachtungen pro Jahr, fallen alle weg. Als ob Haidmühle nicht schon genug Sorgen hätte. Das Hallenbad? Auch geschlossen, zu teuer. Die Straßen? "Alle kaputt", sagt Bürgermeisterin Fenzl (parteilos). Sanieren? "Können wir uns nicht leisten."

Zehn Kilometer weiter steht der Schreibtisch von Kaspar Vogl (SPD), Bürgermeister in Grainet, rund 2400 Einwohner. Wer wissen will, wie es seiner Gemeinde geht, braucht nur tief einzuatmen. Im Rathaus riecht es nach Holz, nach nagelneuen Möbeln. In Grainet ist alles neu. Kindergarten, Bürgerzentrum, Bücherei, auch das Hotel am Hobelsberg. Vier Sterne, 38 000 Übernachtungen pro Jahr. "Tipptopp", schreibt ein Hotelgast im Online-Bewertungsportal. Und der Bürgermeister? "Ich bin total zufrieden", sagt Kaspar Vogl.

Zwei Gemeinden, gleiche Gegend, ähnliche Größe. Hier Überlebenskampf, dort alles tipptopp. In Grainet, so scheint es, hat die Kommunalpolitik sehr vieles richtig gemacht. Und in Haidmühle alles falsch? Ist die Erklärung so einfach? Noch zwei Wochen bis zur Kommunalwahl. Ein guter Anlass, um den Ursachen nachzuspüren - und dieser Frage: Was kann Kommunalpolitik tatsächlich bewegen?

Also, erste Station: Haidmühle. Den Rathausflur lang, dann rechts in Margot Fenzls Büro. Schreibtisch, Aktenschränke, wenig Persönliches, ein Büro eben. Auch Johannes Jung setzt sich zum Gespräch dazu, der Geschäftsleiter im Rathaus. Er definiert gleich mal, was Politik in Haidmühle bedeutet. Hier gehe es um "konkrete Maßnahmen", nicht um Visionen, sagt Jung. Was er damit meint: Dass Kommunalpolitik vor allem eine Frage des Müssens ist. Nicht des Wollens.

In Haidmühle denkt man vor allem an "lebenserhaltende Maßnahmen"

Das Muss sind die sogenannten kommunalen Pflichtaufgaben, die Bund und Freistaat den Kommunen auferlegen. Schule und Kindergarten unterhalten, Abwasser beseitigen, Straßen teeren. Und dann gibt es die freiwilligen Leistungen. Etwa Schwimmbad, Sportplatz, Bücherei. Heißt unterm Strich: Eine Gemeinde, die kaum ihre Pflichten stemmen kann, braucht an Visionen nicht zu denken. Eher an "lebenserhaltende Maßnahmen", sagt die Haidmühler Bürgermeisterin.

Seit sechs Jahren ist Fenzl jetzt die Chefin im Rathaus. "Als ich die Gemeinde übernommen habe, sind immense Schulden dagewesen." Ihr Vorgänger hatte gerade die Kanalisation saniert, "alles Geld vergraben", sagt Fenzl. Und lacht. Sie meint das nicht böse. Der neue Kanal sei ja "dringend nötig" gewesen. Überhaupt ist Fenzl keine, die ihren Vorgängern die Schuld an der Misere gibt. In Haidmühle, sagt sie, sei das Geld schon immer knapp gewesen. Und woran liegt das? "Unsere Lage", sagt Geschäftsleiter Jung. "Wir sind halt schon ein wenig abgeschnitten".

Wer in Haidmühle nach den Grenzen der Kommunalpolitik fragt, landet schnell bei den geografischen Grenzen. Haidmühle liegt im hintersten Eck Bayerns, an der Grenze zu Tschechien. Als der Eiserne Vorhang fiel, rückte der Bayerwald in die Mitte Europas. Doch Haidmühle ist Randgebiet geblieben. Auf Luftbildern sieht das Dorf aus wie eine Insel. Im Westen: nur Wald, dann lange nichts. Im Osten: auch Wald. Und vor allem: keine Straße, die direkt nach Tschechien führt. Wenn man so will, steckt Haidmühle in der Sackgasse. Geografisch. Und damit politisch.

Welcher junge Mensch will schon in einer Sackgasse leben, wenn ihm die Welt offen steht? Viele ziehen weg aus Haidmühle. Und den Alten, die bleiben, fehlen die Nachfolger für ihre Betriebe, Wirtshäuser, Hotels. "Das ist ja unser Problem", sagt Fenzl. Und jedes Mal, wenn einer zusperrt, "heißt es: Mei, da muss die Gemeinde was tun. Aber was soll die Gemeinde bitteschön tun? Ich kann denen keine Nachkommen herzaubern", sagt Johannes Jung. Zaubern geht nicht, klar. Aber kreativ sein? Habe sie ja versucht, sagt Fenzl, aber "das ist ins Lächerliche gezogen worden". Sie meint die Sache mit den Kobolden. Jakob und Jiri, so sollten die Maskottchen heißen, mit denen Fenzl dem Tourismus in Haidmühle eine Marke verpassen wollte. Ein Wanderweg war geplant, mit Kobold-Wegweisern. Über den Dreisesselberg, rüber nach Tschechien. Dazu Infotafeln, Spielgeräte, eine Goldgräberstation. "Das wäre gigantisch gewesen", sagt Fenzl. 1,7 Millionen Euro hätte das Tourismusprojekt gekostet. Haidmühle hätte Fördermittel bekommen, für 90 Prozent der Kosten. Aber die Mehrzahl der Gemeinderäte hat die Sache blockiert. "Zerschmettert", sagt Fenzl.

"Sobald man sagt, man entwickelt Zukunftskonzepte, wird das eher skeptisch beäugt", sagt Rathaus-Geschäftsleiter Jung. "Dann heißt es: Warum richtet ihr die Straßen nicht?" Also richten sie jetzt weiter Straßen in Haidmühle. Eine oder zwei pro Jahr. Kosten: etwa 150 000 Euro. Viel Geld für Haidmühle. Zur Einordnung: Die Gewerbesteuer bringt hier gerade mal 400 000 Euro im Jahr. Dazu kommen die Schlüsselzuweisungen, mit denen der Freistaat die Kommune an Steuereinnahmen beteiligt. Derzeit 700 000 Euro. Zuletzt gab es auch die Stabilisierungshilfe für besonders finanzschwache Gemeinden - aber nur, um Schulden zu tilgen. Neue Schulden machen, um Haidmühle aufzupolieren? "Das wäre ein Traum. Aber das dürfen wir nicht", sagt die Bürgermeisterin.

Man verabschiedet sich, steigt zurück ins Auto, im Rückspiegel schrumpft das Haidmühler Ortsschild. Man lässt die Fensterscheibe runter. Diese Ruhe, diese Luft, links und rechts schneegezuckerter Wald. Die Gegend ist ein Paradies. Aber eines, das der Politik zu schaffen macht. Die Bürgermeisterin tritt trotzdem zur Wiederwahl an. "Für mich ist es das Höchste", sagt Fenzl. "Mit dem bisschen, was wir haben, möchte ich das Beste draus machen." Man kauft ihr das ab. Und trotzdem: Aus der Entfernung lässt sich schwer sagen, ob die Kommunalpolitik in Haidmühle ihre Möglichkeiten ausschöpft. Warum läuft es in Grainet so viel besser? "Mehr Gewerbesteuereinnahmen", sagt Fenzl. "Und wenn ich mehr Geld habe, kann ich mehr machen. Das ist ja ganz einfach."

Ganz einfach? Zweite Station: Grainet. Man fährt die Hauptstraße lang, links: Kirche, Arztpraxis, Raiffeisenbank. Rechts: eine Pension, Edeka, Friseur, Wirtshaus, alle geöffnet. Einige dieser Puzzleteile gibt es auch in Haidmühle noch. Doch in Grainet scheint das Dorf-Puzzle noch komplett zu sein. Wie hat es Grainet geschafft, eine Struktur zu erhalten, die zehn Kilometer östlich bröckelt? Kennt Bürgermeister Vogl das Rezept für erfolgreiche Kommunalpolitik?

"Man muss die Leute mitnehmen. Als Bürgermeister bist du Spielführer, aber du brauchst Mitspieler." Klingt gut. Aber irgendwie auch nach Kleingeld, das ins Phrasenschwein dieser Fußballblablasendung klimpert. Man hakt also nach: Fehlen der Haidmühler Kommunalpolitik doch Spielführerqualitäten? Ist die Bürgermeisterin keineswegs so machtlos, wie sie sagt? Vogl rudert jetzt zurück, nimmt Margot Fenzl in Schutz. Er kennt Haidmühle, war dort Lehrer. Auch er spricht jetzt vom Eisernen Vorhang, von der schwierigen Grenzlage des Nachbardorfs. Und davon, dass man als Kommunalpolitiker "keine Chance" habe, wenn ein Hotelier zusperrt, weil seine Kinder fort sind. "Das kann eine Gemeinde nicht beeinflussen, das musst du akzeptieren", sagt Vogl.

Als der Bürgermeister anfing, vor 18 Jahren, da hatte auch Grainet hohe Schulden. Aber hier gibt es eben einen Umstand, der es leichter macht, Schulden durch Einnahmen zu decken: Das Dorf ist keine Insel wie Haidmühle, besser angebunden an die Fernstraße nach Freyung, Passau, Tschechien. Das ist attraktiv für Firmen und Berufspendler, das zieht junge Familien an, die nicht einsehen, dass Baugrund in Stadtnähe doppelt und dreimal so teuer ist wie in Grainet. Wer in Bayern als Dorf überleben will, muss sich an den Tropf der Städte hängen. Liegt ein Dorf zu weit vom Tropf entfernt, wird es knifflig. Liegt es in einer Sackgasse: Pech gehabt.

Erst kürzlich hat Grainet wieder ein Baugebiet ausgewiesen. Zwölf Parzellen, "fast alle weg", sagt Vogl. Auch in Haidmühle gebe es "junge Leute, die bauen wollen", hat die Bürgermeisterin gesagt. Aber das Dorf hat weder eigenen Baugrund, noch das Geld, einen zu kaufen. Wenn die Leute dann wegziehen, zieht auch das Geld weg, das in Grainet in den Kassen des Wirts, des Arztes, des Friseurs landet. Und der Einkommensteueranteil, von dem besonders Gemeinden profitieren, deren Berufspendler in den Städten oft gut verdienen. Je tiefer ein Dorf in diese Spirale gerät, desto machtloser die Kommunalpolitik.

Was ein Bürgermeister noch tun kann, um Geld aufzutreiben: Fördermittel aufspüren, beantragen, mit Konzepten darum werben. Über Kaspar Vogl heißt es, er sei da ein Meister. Beispiel: der aufgehübschte Ortskern samt Rathaus, das jetzt nach neuen Möbeln riecht. Für die Dorferneuerung hat Vogl Zuschüsse eingeworben, den Rest haben Gemeinde und private Hausbesitzer draufgepackt. Das meint Vogl, wenn er sagt, man müsse die Leute mitnehmen. Wie damals, als ihn die Feuerwehr um ein neues Auto bat. Das alte war kaputt, ein neues gab das Dorfbudget gerade nicht her. Also fuhren die Feuerwehrler ins Ruhrgebiet, kauften aus eigener Kasse ein Gebrauchtauto. "Die haben das selber hergerichtet", sagt Vogl. Im Gegenzug hat die Gemeinde die Innenausrüstung beigesteuert - und versprochen, ein neues Auto zu spendieren, wenn es finanziell wieder besser aussieht. Paar Jahre später war es so weit.

Mit den Bürgern reden, sie überzeugen, um Geduld werben. Das sei ein Rezept für gute Kommunalpolitik, sagt Vogl, der nicht zur Wiederwahl antritt. "Man soll aufhören, wenn es am besten schmeckt." Man reicht ihm die Hand zum Abschied, steigt wieder ins Auto. Was nimmt man mit aus Haidmühle und Grainet? Dass die Macht der Kommunalpolitik begrenzt ist durch Strukturen, die kein Bürgermeister wegzaubern kann. Dass ein Bürgermeister aber auch Chancen hat, wenn die Bürger mitziehen. Sonst noch ein Rezept? Kaspar Vogl überlegt, dann sagt er: "Du darfst halt nicht aufgeben."

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SZ vom 29.02.2020/lfr
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