Süddeutsche Zeitung

Kommunalwahl 2008:Das Surfen in den Listen

Das Wahlrecht bei den bayerischen Kommunalwahlen gilt als kompliziert, aber bürgerfreundlich. Wer das System durchschaut, kann aus den Kandidaten sein eigenes Wunschteam zusammenstellen.

Kassian Stroh

Seit ein paar Tagen bekommt Volker Berninger vermehrt Besuch, auf der Website zumindest. Seine Software-Firma betreut Kommunen und bietet ihnen Programme für den Wahlabend an. Unter www.probewahl.de hat Berninger zu Demonstrationszwecken einen Musterstimmzettel für die bayerischen Kommunalwahlen ins Netz gestellt.

Und stündlich klicken ihn mehr Menschen an, um zu erfahren, wie das mit der Stimmvergabe und dem Auszählen funktioniert. Das tut not. Denn Bayerns Wahlrecht sei im Bundesvergleich besonders kompliziert, sagt Berninger. Nirgendwo sei es so leicht, "ungültig zu wählen".

Eigenes Wunschteam zusammenstellen

Aber es sei das "bürgerfreundlichste Wahlrecht" in ganz Deutschland, gibt Hermann Büchner zu bedenken, Dozent an der Hofer Beamten-Fachhochschule und Experte für Kommunalrecht. Schließlich könne man sich "aus allen Wahlvorschlägen ein Wunschteam zusammenstellen".

Die Juristen sprechen von einem "personalisierten Verhältniswahlrecht", weil grundsätzlich Personen zu wählen sind, die Sitze im Gemeinderat oder Kreistag aber danach vergeben werden, wie viele Gesamtstimmen die Listen jeweils bekommen haben.

Recht einfach ist die Wahl der Bürgermeister und Landräte. Jeder Wähler hat eine Stimme, die er einem der Kandidaten gibt. Tritt nur einer an, kann man ihn wählen oder einen anderen Namen handschriftlich eintragen. Gibt es gar keinen Kandidaten - das kommt gelegentlich in kleinen Gemeinden vor - muss der Wähler einen Namen eintragen. Dann gewinnt, wer am meisten Stimmen erhält.

Häufeln und streichen

Viel komplizierter ist die Wahl der Kommunalparlamente. Grundsätzlich gilt: Jeder Wähler hat so viele Stimmen, wie Mandate zu vergeben sind - von acht in kleinen Orten bis zu 80 im Münchner Stadtrat. So viele Namen von Kandidaten umfassen dann auch die einzelnen Listen. (In sehr kleinen Gemeinden können auch doppelt so viele Kandidaten antreten - dementsprechend mehr Stimmen hat der Wähler. Das gilt auch, wenn nur eine Liste zur Wahl steht.)

Die einfachste Möglichkeit ist, einfach eine Liste als ganze anzukreuzen (A), in unserem fiktiven Beispiel die Freien Bürger Sillertshausen. Dann bekommt jeder ihrer Kandidaten je eine Stimme. Das freut die Wahlhelfer, weil die Stimmzettel leicht auszuwerten sind. Üblicherweise werden diese, nachdem die Wahllokale geschlossen sind, als erste erfasst. Findet man die Freien Bürger gut, hält den Kandidaten Falkenberg aber für eine Niete, kann man ihn streichen (C). Dann wird er mit keiner Stimme bedacht. (Minusstimmen gibt es übrigens nicht.)

Der Wähler kann aber auch Stimmen häufeln - weil das zu einfach klingt, spricht der Jurist von "Kumulieren". Will man etwa den Kandidaten Kunerl besonders unterstützen, gibt man ihm zwei oder drei Stimmen (B). Mehr ist nicht erlaubt. In unserem Beispiel - blendet man einmal aus, dass hier auch Kandidaten der Unabhängigen Bürgerliste Sillertshausen angekreuzt wurden - würde das bedeuten: Der Wähler hat acht Stimmen insgesamt zu vergeben.

Davon bekommt Kunerl drei, es bleiben also fünf übrig. Die bekommen nun von oben nach unten die ersten fünf Kandidaten auf der Liste - mit Ausnahme von Kunerl, der hat ja schon drei, und mit Ausnahme von Falkenberg, der ist ja durchgestrichen. Deshalb ist es für die Kandidaten gut, möglichst weit oben auf der Liste zu stehen. Allerdings schaffen es orts- und stadtbekannte Personen regelmäßig von ganz hinten nach vorne zu kommen, die sogenannten Häufelkönige.

Was das Auszählen in die Länge ziehen kann, ist das "Panaschieren". Franz-Ludwig Knemeyer, emeritierter Staatsrechtler der Uni Würzburg, nennt es "surfen in den Listen". Damit ist gemeint, dass man quer durch alle Listen Stimmen vergeben kann. In unserem Beispiel also auch drei an den Kandidaten Probst der Unabhängigen Bürgerliste (D), obwohl man ja ein Listenkreuz bei den Freien Bürgern gemacht hat. Diese drei Stimmen werden beim Auszählen den Freien Bürgern abgezogen.

Wenn man das Rechenbeispiel von oben fortsetzt, heißt das: Nur die ersten zwei Kandidaten auf der Liste der Freien Bürger bekommen noch eine Stimme. Für Panaschieren und Häufeln gibt es nur eine Grenze: Es dürfen nicht mehr Stimmen vergeben werden, als zur Verfügung stehen - sonst wird der Stimmzettel als ganzes ungültig. In unserem Beispiel hat der Wähler acht Stimmen - würde er drei Kandidaten mit jeweils drei Stimmen bedenken, würde sein Wahlzettel nicht berücksichtigt.

Dasselbe gilt im Übrigen, wenn man Kommentare, Bemerkungen oder sonstige Kritzeleien anfügt (F) - auch dann ist der Stimmzettel ungültig. Panaschieren und Häufeln sind im Übrigen nicht möglich, wenn nur eine Liste zur Wahl steht. Auch dann aber können Kandidaten gestrichen werden, und es können sogar handschriftlich weitere Namen hinzugefügt werden.

Franz Huber steht zweimal auf der Liste

Und dann gibt es noch einen Sonderfall, der gar nicht so selten ist, aber Quell eines der häufigsten Fehler, die Wähler machen: Wenn ein Kandidat mehrfach auf dem Stimmzettel steht, wie Franz Huber von der Unabhängigen Bürgerliste (E), darf man ihm trotzdem nicht mehr als drei Stimmen insgesamt geben.

Das steht zwar groß auf jedem Stimmzettel, wird aber trotzdem oft missachtet. In diesem Fall wird zumindest nicht der ganze Stimmzettel ungültig - beim Auszählen rechnen die Wahlhelfer Huber einfach nur drei Stimmen zu. Dass Parteien oder Wählergruppen ihre Kandidaten mehrfach nennen, hat einen simplen Grund: Sie haben nicht genug Kandidaten gefunden.

Für die Unabhängige Bürgerliste etwa treten nur sieben Männer und Frauen an, obwohl im Gemeinderat acht Sitze zu vergeben sind. Würden sie alle nur einfach auf dem Stimmzettel stehen, würde bei allen, die allein diese Liste ankreuzen, nur sieben Stimmen gewertet. Die Unabhängige Bürgerliste hätte also eine Stimme verschenkt.

Das aber ist für sie schlecht, da die Zahl der Mandate, die sie im neuen Gemeinderat von Sillertshausen bekommt, von der Gesamtzahl der Stimmen für alle ihre Kandidaten abhängt. Deshalb steht Franz Huber zweimal auf der Liste.

Von der Schweiz inspiriertes Wahlsystem

Dass das Wählen nicht so ganz einfach ist, belegt eine Zahl: Bei der Kommunalwahl vor sechs Jahren waren 3,5 Prozent der abgegebenen Stimmzettel ungültig - viel mehr als etwa bei einer Bundestagswahl. Das aber sei "zu vernachlässigen gegenüber den großen Vorteilen, die dieses System für die Bürger hat", sagt Staatsrechtler Knemeyer. Seine Bürgerfreundlichkeit eben.

"Die ist zurückzuführen auf die Schweiz-Nähe der Verfassung", erläutert Knemeyer. Die Schweiz, Vorbild an Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie, habe also auf das bayerische System eingewirkt, ähnlich wie in Baden-Württemberg. Inzwischen habe diese sogenannte Süddeutsche Ratsverfassung, die auch die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte vorsieht, einen "Siegeszug nach Norddeutschland angetreten", sagt Knemeyer. Das komplizierte bayerische Wahlsystem ist also keine Besonderheit, sondern mittlerweile in ähnlicher Form auch in anderen Bundesländern zu finden.

Eingeführt wurde es in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg, größere Änderungen gab es seitdem nicht. Nur in Details wurde immer wieder mal ein "Übermaß an Bürgerfreundlichkeit" gestrichen, wie sich der Hofer Jurist Büchner erinnert. Früher habe es beispielsweise viele Möglichkeiten gegeben, wie Stimmzettel, auf denen zu viele Stimmen vergeben waren, noch "geheilt" und damit wieder gültig gemacht werden konnten.

Diese Regeln wurden in den 90er Jahren gestrichen - wie auch die Besonderheit, dass es, wenn bei einer Bürgermeisterwahl nur ein Kandidat antrat, ausreichte, einen leeren Zettel abzugeben. Das wurde früher als gültige Ja-Stimme gewertet, heute wäre dies ungültig. Auch bei der Wahl am Sonntag gibt es ein paar kleine Neuerungen. So dürfen nun Kandidaten, die in die Stichwahl kommen, von dieser zuvor zurücktreten.

Auch galt bislang, um einer Vetternwirtschaft vorzubeugen, in Gemeinden mit weniger als 10000 Einwohnern das Verbot, dass Ehepartner oder Eltern und Kinder gleichzeitig im Gemeinderat sitzen dürfen. Dieses wurde vor zwei Jahren gestrichen.

"Damoklesschwert der Abwahl"

Unter Juristen werden auch weitere potentielle Änderungen diskutiert. So gibt es in manchen anderen Bundesländern die Möglichkeit, den Bürgermeister oder Landrat vorzeitig abzuwählen. Dies auch hierzulande einzuführen, habe sich Bayern bislang strikt geweigert, erzählt Knemeyer. Aus gutem Grund, wie er findet: Schließlich sollten die Gewählten Zeit bekommen, sich zu bewähren, und nicht vom "Damoklesschwert der Abwahl bedroht" sein. "Der Bürger gibt für sechs Jahre sein Vertrauen", sagt Knemeyer.

Sei er mit dem Politiker unzufrieden, habe er andere Möglichkeiten, seinen Unmut zu äußern, als die Abwahl: mit einem Bürgerbegehren oder -entscheid beispielsweise. Ginge es nach Knemeyer, könnte man allenfalls eine Kleinigkeit noch im bayerischen Wahlrecht ändern: Nämlich dass ein Kandidat nicht nur maximal drei, sondern bis zu fünf Stimmen bekommen kann. "Damit könnte man noch deutlicher seine Präferenz für bestimmte Persönlichkeiten dartun."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.296310
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.02.2008/ktk
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.