Süddeutsche Zeitung

Kommunalpolitik in Bayern:Warum viele Gemeinderäte weiterhin nur analog tagen

In der Corona-Krise waren ganz normale Gremiensitzungen kaum denkbar, also erlaubte das Innenministerium hybride Zusammenkünfte. Wie viele Stadträte und Kreistage machten davon Gebrauch? Eine Studie zeigt überraschende Erkenntnisse.

Von Johann Osel, München

Sitzungen in riesigen Turnhallen, Ausschüsse statt Vollversammlung, abgespecktes Programm - die Pandemie hat Bayerns Kreistage, Stadt- und Gemeinderäte im Jahr 2020 vor Herausforderungen gestellt. Es wurde improvisiert in der Lokalpolitik. Im zweiten Corona-Jahr 2021 wurde den Gremien dann ein neues Instrument an die Hand gegeben: hybride Sitzungen, bei denen unter Ausnahme des Leiters einige oder auch alle Mitglieder zugeschaltet werden können. Kommunen können seitdem selbst entscheiden, ob und wann sie davon Gebrauch machen. Die Ermächtigung dazu im Gesetz gilt bis zum Jahresende 2022.

Das war auch als Probelauf gedacht, wie das Innenministerium damals schrieb: Die Klausel ziele nicht nur auf die Bewältigung der Pandemie ab, sondern solle "generell mehr Handlungsspielräume verschaffen", zum Beispiel für die Vereinbarkeit des kommunalen Ehrenamtes mit Familie und Beruf. Aktuell arbeitet das Ministerium an einer Nachfolgeregel, der Entfristung vom neuen Jahr an. Doch wie ist die Maßnahme überhaupt angekommen in den Stadt- und Gemeinderäten?

Dazu hat es eine Evaluierung gegeben, für die das Ministerium alle Bezirke, Landkreise, Städte und Gemeinden befragte. Der unveröffentlichte Bericht liegt der SZ vor. Mit überraschender Gesamtbilanz: Sehr viele Kommunen nutzten die Möglichkeit gar nicht. 52 Prozent aller kreisfreien Städte tagten hybrid, aber nur 21 Prozent der Landkreise, 17 Prozent der Großen Kreisstädte und gerade mal 6,4 Prozent der kreisangehörigen Gemeinden. Tendenziell scheint das eher für größere Kommunen attraktiv zu sein. Diejenigen, die auf Hybridsitzungen setzen, nutzen die Option aber gerne, in vier von zehn dieser Gemeinden sind Sitzungen mit Zuschaltung inzwischen der Regelfall. Und der Großteil dieser Kommunen tut dies unabhängig von Corona. Viele verzichten darauf, dass konkrete Verhinderungsgründe genannt werden müssen.

Kommunen berichten von technischem, finanziellem und personellem Aufwand

Mehr als zwei Drittel der Kommunen mit Hybridsitzungen berichten von ausschließlich oder überwiegend positiven Erfahrungen. Negative Aspekte betreffen vorrangig den technischen, finanziellen und personellen Aufwand, teils auch eine leidende Sitzungskultur - zum Beispiel, weil man die Mimik eines Redners nicht gut erkenne. Andere fragen sich, wie die Geheimhaltung nicht-öffentlicher Sitzungen zu kontrollieren sei - ob also der Ehepartner oder die halbe Nachbarschaft des Mandatsträgers heimlich zuschaut. Bei den positiven Erfahrungen betonen Kommunen (neben der Handlungsfähigkeit in Pandemiezeiten) vor allem die gewonnene "Flexibilität". So hätten erkrankte, berufstätige oder durch Kinderbetreuung eingespannte Mitglieder teilnehmen können, die andernfalls wohl absagen hätten müssen.

Ein Bündel an Gründen, vom Datenschutz bis zur Debattenkultur, habe zur bisherigen Zurückhaltung geführt, heißt es beim Bayerischen Gemeindetag, der die mehr als 2000 kreisangehörigen Städte, Märkte und Gemeinden vertritt. Viele hätten keinen Bedarf gesehen und daher die Investition nicht auf sich nehmen wollen. Andreas Gaß, Direktor für Kommunalrecht, will kleinere Kommunen aber "nicht als Hinterwäldler, die mit Digitalisierung nichts anfangen können", dargestellt wissen. So habe ja auch nur jeder fünfte Landkreis hybride Sitzungen abgehalten. Laut Gaß ist es gut möglich, dass mit der unbefristeten Regel noch Gemeinden "auf den Zug aufspringen". Das glaubt, "im Lichte der Erfahrungen anderer Kommunen", auch das Innenministerium.

"Für die Digitalisierung auch auf der kommunalen Ebene war Corona eine Chance auf Fortschritt, das sollten wir nutzen", sagt der grüne Landtagsabgeordnete Johannes Becher. Bemerkenswert findet er das Lob der Flexibilität aus vielen Kommunen, gerade mit Blick auf Politik und Familie - und mit dem Ziel, mehr Frauen für die Lokalpolitik zu gewinnen. Die Kommunalwahl 2020 hatte da nur geringe Verbesserungen ergeben: In Räten kreisangehöriger Städte und Gemeinden liegt der Frauenanteil etwa bei 22 Prozent, in Kreistagen bei 28. Digitale Möglichkeiten seien aber "kein Allheilmittel", meint Becher, Präsenz werde der Regelfall bleiben.

Er plädiert für weitere Maßnahmen zur Stärkung des demokratischen Ehrenamts - zum Beispiel, dass sich Rätinnen, die ein Kind zur Welt bringen oder familiär gefordert sind, vom Nachrücker auf der Liste vertreten lassen können und danach wieder ihr Mandat regulär wahrnehmen.

Erstmal aber, sagt Becher, müsse die Staatsregierung zügig ihren Entwurf ins Kabinett bringen. Mit einem Beschluss noch vor Auslaufen der Ermächtigung sei kaum zu rechnen. Das rügt auch Alexander Muthmann (FDP): "Bis Ende des Jahres noch eine Lösung hinzubekommen, ist schon ein sehr sportliches Vorhaben." Seine Fraktion habe von Anfang an gefordert, hybride Sitzungen unbefristet zuzulassen, die kommunalen Gremien "brauchen für die Gestaltung audiovisueller Sitzungen Planungssicherheit".

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