Kommentar:Tübingen zero

Von den Modellprojekten bleibt so gut wie nichts übrig. Dem harten Corona-Winter folgt ein hartes Corona-Frühjahr

Von Andreas Glas

Die Idee der Corona-Modellstädte stand von Anfang an auf wackligen Füßen. Spätestens seit diesem Dienstag wackeln die Füße noch ein bisschen mehr. Dass Ministerpräsident Markus Söder nun infrage stellt, dass das Projekt, das in vielen Städten große Hoffnungen geweckt hat, überhaupt kommt, ist natürlich eine Enttäuschung. In Boutiquen stöbern, zwischendurch ins Café und abends ins Theater - das dürfte es in Bayern so schnell nicht geben, auch nicht in ausgewählten Kleinstädten. Wenn überhaupt, hat Söder klargestellt, wird es in acht Städten wohl nur jeweils eine Option für die Menschen geben: entweder Boutique oder Café, entweder Biergarten oder Theater.

Eine Enttäuschung also. Aber wohl die richtige Entscheidung angesichts der Infektionslage. Natürlich ist es gut, wenn die Politik in der Pandemie auch mal Mut zeigt zu Entscheidungen, die nicht nur aus Öffnen und Schließen bestehen, wenn sie auch mal etwas ausprobiert, um Chancen auszuloten und die Pandemie zu erforschen, über deren Mechanismen wir immer noch nicht alles wissen. Das Modell Tübingen ist da sicher eine gute Sache. Aber Tübingen lag wochenlang unterhalb der 35er-Inzidenzmarke. Bayern dagegen plant die Modellversuche in Städten mit einer Inzidenz zwischen 100 und 150 - gefährliche Bedingungen für ein Experiment an der eigenen Bevölkerung.

Statt "Tübingen plus" kommt nun vielleicht "Tübingen light"; für einige wenige Städte wäre das zumindest ein Quantum Trost. Alle anderen bayerischen Dörfer, Gemeinden und Städte dürfen sich spätestens seit diesem Dienstag darauf einstellen, dass einem langen, harten Winter ein langer, harter Frühling folgen könnte. Oder, um im Sprachbild zu bleiben: "Tübingen zero". Übrigens, das ist jetzt kein Trost für Bayern, aber manchem hilft es vielleicht ein wenig: In der Modellstadt Tübingen hat sich die Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt binnen weniger Tage fast verdoppelt. Boris Palmer, der Oberbürgermeister, plädiert nun für nächtliche Ausgangssperren.

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