Kolbermoor:Scherben, Stahl und Staub

Am Tag zwei sind die Überlebenden schockiert - aber dankbar

Von Katharina Blum, Oliver Klasen, Kolbermoor

06:47,35 Sekunden: Franz Tieber wählt am Dienstagmorgen im letzten Waggon des Meridians von Rosenheim nach Holzkirchen mit seinem Handy den Notruf. Nichts. Um 06:48,59 nächster Versuch, um 06:49,29 noch einmal. Funkloch. Währenddessen gelingt es einem Fahrgast, die hintere Tür zu entriegeln, Tieber kann sie schließlich öffnen. Jemand anderes konnte inzwischen die Rettungskräfte alarmieren. Also erst mal bloß raus hier.

Einen Tag später sitzt Franz Tieber in seinem Wohnzimmer in einem Reihenhaus in Kolbermoor. Ein Arzt hat den 59-Jährigen noch bis Freitag krankgeschrieben. Wie es ihm jetzt geht? Eine Antwort auf diese eigentlich so profane Frage zu geben, fällt nach einem Unglück wie diesem nicht leicht. "Den Umständen entsprechend", sagt Tieber. "Ich bin ja glimpflich davon gekommen." Mit einem Hämatom und einer offene Wunde am Kopf, und der Hals schmerzt noch. Die Mitfahrer, die ihm im Viererabteil gegenübersaßen, hat es schlimmer erwischt. Mit dem Kopf seien sie beim Zusammenprall der Züge auf den Tisch geknallt, vermutlich haben sie sich die Rippen gebrochen. "Die Retter waren schnell vor Ort, da hätten wir nicht viel tun können. Das gesamte Ausmaß wollte ich mir ohnehin nicht anschauen, die Bilder sollten sich nicht einbrennen." Zehn Menschen sind bei dem Unglück ums Leben gekommen, rund 80 wurden verletzt.

Es sind Bilder, die wohl auch Bernhard Lechner-Raith so bald nicht vergessen wird. Der Industriekaufmann saß im vierten Wagen des Zuges von Holzkirchen nach Rosenheim. "Die Verglasung der Deckenleuchte ist runtergekracht. Überall lagen Glasscherben herum, außerdem Dreck und Staub." Doch auch er kann den Zug alleine verlassen. Nur ein bisschen an der Lippe und am linken Bein habe er sich verletzt. Kurz nach dem Crash war er verwirrt, lief planlos durch das Gestrüpp neben den Waggons, sah Blitze, die aus der heruntergerissenen Hochspannungsleitung zuckten, und hatte deshalb Angst, sich dem Mann zu nähern, dessen Schmerzschreie er hören konnte.

Am Abend war Bernhard Lechner-Raith noch einmal zurückgekommen, auf die Brücke zwischen Bad Aibling und Pullach, nur wenige hundert Meter von der Unglücksstelle entfernt. Viele Rettungskräfte und Presseleute waren bereits abgezogen. Andere, die mit ihm im Zug gesessen haben, haben sich noch bei einem Gottesdienst in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt getroffen. "Danke, dass Du mich heute geschützt hast", steht in einem Buch, das im Eingangsbereich ausgelegt ist. "Schütze auch bitte die Verletzten von heute."

Franz Tieber sah sich noch im Fernsehen die Pressekonferenz an. "Die Unfallursache spielt für mich insofern eine Rolle, weil man das kein zweites Mal erleben will." In einen Zug einsteigen wird der Product-Lifecycle-Manager aber auf alle Fälle wieder: "Ich bin ja auch sofort wieder Auto gefahren." 2002 war auf der A9 bei Pfaffenhofen eine Baustellentür knapp unter der Windschutzscheibe in sein Auto eingeschlagen, auch damals blieb er fast unverletzt. "Es gibt ein Risiko im Leben, dem kann man einfach nicht ausweichen."

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