Eines Tages im April 2020, in dem das ganze Land wegen Corona im Lockdown verharrte, ist Klaus Leidorf mit seiner fast 50 Jahre alten Cessna 172 über das wie verlassen wirkende Land geflogen. "Ich war der einzige Flieger in der Luft", erinnert er sich. Als Luftbildarchäologe durfte er weiterhin seinem Beruf nachgehen und nach Spuren aus der Vor- und Frühgeschichte suchen. "So ganz allein über Bayern zu fliegen, das war ein komisches Gefühl", erzählt Leidorf, "mich hat es emotional sehr berührt."
Als er damals auf den Chiemsee blickte, fielen ihm auf der Wasseroberfläche seltsame Strukturen auf. Er nahm seinen Fotoapparat zur Hand und hielt sie fest. Die Maschine zu steuern, die Landschaft mit dem Auge zu scannen und zugleich zu fotografieren, das beherrscht Leidorf mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung virtuos. Normalerweise sucht er im Auftrag des Landesamts für Denkmalpflege nach Spuren, die der Mensch in der Vergangenheit im Boden hinterlassen hat. Zusammen mit seinem Vorgänger Otto Braasch hat er bei seinen Flügen über Gebirge, Täler und Fluren Zehntausende vor- und frühgeschichtliche Bodendenkmäler entdeckt, seien es Grabhügel, Siedlungen oder Reste von Römerstraßen.
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"Ich erkenne aber auch andere Strukturen", sagt Leidorf, der eine seltene Gabe besitzt. "Du siehst Sachen, die wir nicht sehen", sagen ihm Kollegen immer wieder. So war es auch im April 2020, als er die Einsamkeit des Chiemsees betrachtete. Betritt man den wunderbaren Ausstellungssaal im Verwaltungsgebäude der Ziegelwerke Leipfinger-Bader in Vatersdorf bei Landshut, dann springt das Auge sofort auf diese meterbreit vergrößerte Aufnahme, die Leidorf damals spontan gemacht hat.
Das Foto erinnert an die fantastischen Bilder und Strukturen aus der Unendlichkeit, die das James-Webb-Weltraumteleskop seit Wochen auf die Erde sendet. Leidorfs Bild zeigt freilich keinen Blick in die Weiten des Alls, sondern lediglich Schlieren von Blütenstaub, die sich eigenwillig auf das Wasser gelegt haben. Es wirkt, als habe sich der Chiemsee kurz geschminkt. "Panta rhei" steht als Bildlegende dabei, alles fließt, das Bild dokumentiert eine Struktur mit raschem Verfallstempo, die sich zufällig gebildet hat.
Aus der Luft betrachtet, wird Großes plötzlich klein. "Aber im Kleinen werden Strukturen und Muster sichtbar, die wiederum klar machen, dass wir nicht alles überblicken, von dem wir glauben, es sei die objektiv sichtbare Welt", sagt Leidorf. Besonders schöne Beispiele von Strukturen, die er bei seiner Fliegerei entdeckt hat, zeigt Leidorf gerade in einer Sonderausstellung, die logischerweise den Titel "Strukturen" trägt.
Für manche dieser Strukturen fand Leidorf den treffenden Begriff Bauernmalerei. Es handelt sich dabei um Abbilder einer maschinellen Tätigkeit. "Die meisten Landwirte ahnen gar nicht, was sie Einzigartiges auf ihren Äckern erschaffen", sagt er. Aus großer Höhe erscheinen diese Gebilde wie abstrakte Kunst, dargebracht auf Flächen, auf denen gedüngt, geeggt, geackert, gesät, gewalzt, gemäht und gespritzt wird. Wenn Gülle auf eine Schneefläche aufgebracht wird, ergibt das Kunstwerke mit kuriosen und faszinierenden Formen, die aber sehr vergänglich sind.
Neben den Mustern der Archäologie sah Leidorf im Laufe der Zeit "auch andere Muster", wie er beim Rundgang durch die Ausstellung erzählt. Etwa, als ein Boot der Wasserwacht auf der Donau plötzlich eine Kehre machte und sich auf dem Wasser ein schöner Kringel bildete. So etwas festzuhalten, erfordert beim Drüberfliegen eine blitzschnelle Reaktion. Oder das Dach eines Parkhauses in Ansbach, das oben mit verschiedenen farbigen Folien abgedichtet war. Man kann auf dem Foto partout nicht erkennen, was hier dargestellt ist. Bei der Feldscheune mitten im gelben Rapsfeld denkt man unwillkürlich an ein Gemälde des amerikanischen Malers Mark Rothko, der als Wegbereiter der Farbfeldmalerei gilt. Der vereiste Kleine Arbersee schaut wiederum aus wie ein Pilz in der Petrischale.
Einen kuriosen Eindruck hinterlässt auch die kleine Feldkapelle im Kelheimer Ortsteil Thaldorf. Früher führte dort ein Weg vorbei. Mittlerweile steht die Kapelle verloren in einer Agrarfläche, der Bauer hat sie aber nicht weggerissen. "Er hat Respekt vor der Kapelle", vermutet Leidorf. Sie steht nicht einmal unter Denkmalschutz und stört ja eigentlich bei der Bewirtschaftung der ausgeräumten, auf Ertrag getrimmten Agrarsteppe.
Überdies dokumentiert Leidorf die sich durch den Flächenverbrauch dramatisch verändernde Landschaft. An den Schmerz, den dieser Anblick verursacht, habe er sich mittlerweile gewöhnt, sagt er. Davon abgesehen bereiten ihm die Flüge nach wie vor eine große Freude. Er sehe ja nicht nur die Verwüstungen. "Es gibt immer noch so viel Schönes zu entdecken, und sei es im Abstrakten." Manche Fotos verraten sogar, wie die Gesellschaft tickt. Ein Bild zeigt eine Siedlung in Poing bei München. Daneben ist eine Friedhofsanlage platziert. Es fällt auf, wie streng rechtwinklig alles angeordnet ist. "Wir leben in einer rechtwinkligen Schachtel", sagt Leidorf, "und wir werden auch in einer solchen bestattet."
Ausstellung "Strukturen" im Neuen Geschichtsboden in Vatersdorf, Sa/So 14-18 Uhr. Am 20. Oktober Führung mit Klaus Leidorf und Museumsleiterin Stefanje Weinmayr (19.30 Uhr).