Klage gegen Jugendamt:Die verlorene Kindheit des jungen Sven

Hat das Jugendamt seinen Schutzauftrag erfüllt oder ein Leben zerstört? Sven musste seine Mutter verlassen. Erst kam er in die Psychiatrie, dann ins Heim. Der heute 19-Jährige hat nun das Landratsamt Amberg-Sulzbach auf Schadenersatz verklagt: Er sei in seiner seelischen Gesundheit schwer geschädigt worden.

Max Hägler

Und, schon einmal einen Rausch gehabt? Sven Schrem schaut seine Mutter an, grinst ein wenig, nimmt, als ob er sich entschuldigen will, die Hände auseinander und sagt dann, kopfschüttelnd: Ne. Nein, Sven Schrem hat sich noch keinen hinter die Binde gekippt, hat noch nicht mit Mädchen herumgeschäkert, rennt nicht am Wochenende in Discos, eigentlich rennt er gar nirgendwo hin. Nicht zum Sportplatz, nicht zum Einkaufen, er traut sich das nicht. Er geht morgens in keine Schule, nicht in die Arbeit, wie auch - er hat keinen Abschluss. Nur zum Kieferorthopäden geht er ab und an, aber nur mit seiner Mutter. "Allein könnte er sich nicht aufraffen", sagt sie. Sven Schrem ist 19 Jahre alt.

Freunde hat er: Online, im Warhammer-Forum. Würde er gerne einmal rausgehen aus dieser Wohnung am Stadtrand von Weiden, in die Innenstadt vielleicht? Mhm. Würde er gerne etwas ändern an seinem Leben? Mhm. Der junge Mann, groß und breit ist er, hat Flaum am Kinn, dreht seine Hände unter dem Küchentisch. Naja. Blickt nach unten, blickt einen an aus diesen kleinen Augen, die offensichtlich viel in einen Computer starren. Ja, sagt er dann. Ich wäre gerne offener. Hätten Sie gerne ein normales Leben? Ja. Empfinden Sie Wut? Ja. Auf wen? Sven lacht auf. Na, auf Frau Schmidt. Und auf das Jugendamt, den Staat? Ja, schon.

Was schwammig klingt, weil Sven wenig redet, das gibt es auch niedergeschrieben, handfest und akkurat: Sven hat Schadenersatzklage gegen das Landratsamt Amberg-Sulzbach eingereicht, den Dienstherren von Frau Schmidt. Eine seltene Reaktion. An diesem Donnerstag entscheidet das Landgericht Amberg, ob stimmt, was Ellen Schrem sagt: "Das Amt hat das Selbstbewusstsein und die Kindheit meines Sohnes zerstört."

Vier Jahre ist es her, dass das Kreisjugendamt, dass Frau Schmidt, deren Namen in diesem Text ebenso wie Svens Nachname geändert ist, in sein Leben eingegriffen hat, ihn erst zwei Monate in die Psychiatrie nach Erlangen einwies und dann drei Monate in ein Heim. "Durch fehlerhafte und amtspflichtwidrige Aufgabenerfüllung des Beklagten im Bereich der Jugendhilfe" sei Sven in seinen Freiheitsrechten verletzt und in seiner seelischen Gesundheit schwer geschädigt worden, heißt es in der Klageschrift. Vor dem Landgericht Amberg geht es um 80.000 Euro verbunden mit der Frage: Hat das Jugendamt, der Staat, Schuld, dass sich Sven seit Jahren durchs Leben quält, ohne Freunde, ohne Perspektive?

Nun ist es so, dass bei Sven Schrem schon vor vier Jahren nicht alles rund lief. Sven und seine Mutter Ellen wohnten damals in Vilseck, in der Mitte der Oberpfalz. Der Junge hatte auch damals schon ein paar Kilo zu viel, der Vater war weg und in der Schule drangsalierten ihn die Kinder, in den Ferien nach der sechsten Klasse traute er sich nicht mehr ins Schwimmbad. Der Michi vor allem, erzählt Sven, obwohl der doch auch dick gewesen sei. Jedenfalls fehlte Sven oft, die Schule meldet das ans Jugendamt. Im selben Jahr diagnostiziert ein Neurologe eine Schulphobie und "subdepressives Verhalten", verschrieb Johanniskraut als Stimmungsaufheller und riet zu einer Psychotherapie. Doch Sven bekam sein Leben nicht in den Griff.

Im Januar 2006 traf sich die Mitarbeiterin des Jugendamtes Amberg-Sulzbach das erste Mal mit den Schrems. "Sven wirkte sehr unmotiviert im Gespräch. Er hatte sichtbar die Lust am kindlichen Leben verloren", notierte die Diplompädagogin Schmidt nach dem Hausbesuch. Und: Es gehe darum, Svens Selbstvertrauen aufzubauen. Ein Erziehungsbeistand wurde bestellt. Doch der Mann bekam keinen Draht zu Sven, dem die Gutachten bescheinigen, weit intelligenter zu sein, als es den Eindruck mache. Die Situation besserte sich nicht.

"Vorschnelle Abschiebung in die Psychiatrie"

Als "Blaumacher" beschimpften Mitschüler Sven und mit anderen Wörtern, die wirklich weh tun. Ein gutes Jahr später beschloss das Amt, dass Svens Leben eine "Abklärung" benötige. Das sei aber nicht ambulant möglich, da er daheim überversorgt werde. Der Mutter wurden daraufhin das Aufenthaltsbestimmungsrecht und die Zuständigkeit für die Gesundheitsfürsorge entzogen.

Am 5. April 2007 holte Frau Schmidt den Jungen ab, zur Sicherheit hatte sie die Polizei mitgebracht, und fuhr mit Sven zur Kinder- und Jugendpsychiatrie nach Erlangen, ein Haus, an dessen Tür steht: "Achtung Fluchtgefahr! Türe absperren!" Neuneinhalb Wochen verbrachte Sven dort. Gegen seinen Willen, sagt er heute. Und er glaubt, dass er jetzt einen Schulabschluss hätte, ein normales Leben, wenn das nicht passiert wäre.

Anstatt zu fragen, ob die bisherige Hilfe ungeeignet war, suchte das überforderte Jugendamt sein Heil in einer vorschnellen Abschiebung in eine Psychiatrie", bewertet Rechtsanwalt Johannes Hildebrandt den Fall seines Mandanten Sven. Das Mobbing in der Schule, aus seiner Sicht entscheidend, habe das Amt dagegen nicht angegangen und diesen Faktor auch dem Gericht verschwiegen.

Das Jugendamt sieht das alles anders, natürlich. In den Klageerwiderungen bestreitet das Amt "dass der Kläger den Hauptschulabschluss bestanden hätte", und es bestreitet auch, dass die Jugendhilfe bei Sven fehlerhaft gelaufen sei.

Das Mobbing habe sie damals "nicht so in den Vordergrund gestellt", sagt Jugendamtsmitarbeiterin Schmidt, als sie bei einem der Gerichtstermine als Zeugin geladen ist. Es habe auch noch viele andere Faktoren gegeben. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn etwa. Von "einer ganz engen Symbiose", spricht die junge Frau mit den blonden, kurzen Haaren. Andere, die mit den Schrems zu tun hatten, schreiben in Stellungnahmen von einer "overprotecting mother", von einer überbehütenden Mutter. So eng sei das gewesen, dass sich Sven nicht habe entfalten können, erinnert sich Schmidt. Die Vertreterin des Landratsamtes auf der Beklagtenbank hört angestrengt zu, die Ellbogen auf den Aktenordner gestützt, das Unterkiefer nach vorn geschoben.

Es geht um viel, um das Ansehen des Jugendamtes, aber auch um die Systemfrage, die Klägeranwalt Hildebrandt, der auch Diplom-Pädagoge ist, immer wieder aufwirft: Oft werden problematische Kinder aus Familien genommen - weil Jugendämter denken, ihrem Schutzauftrag gerecht werden wollen. "Aber es gibt auch viele Fehlentscheidungen", sagt Hildebrandt. Dann nämlich, wenn schlechte Jugendamtsberichte mit einer Fließbandjustiz zusammenkommen. So wie bei Sven, meint er, wo Jugendamtsmitarbeiter Fakten und Meinung vermischt hätten - ohne auch noch die notwendige Kompetenz zu haben. "Dann werden Fälle monströs, und man bekommt sie nicht mehr in den Griff."

Dass niemand Sven helfen konnte, trotz Abklärung, das ist offensichtlich. Auch ein Schulwechsel scheiterte schließlich. Im November 2007 - Ellen Schrem hatte das volle Sorgerecht kommentarlos wieder zugesprochen bekommen -, wechselte Sven in eine andere Schule. Doch nur kurze Zeit später schloss ihn die Lehrerkonferenz aus - weil er wieder zu selten im Unterricht war. Wieder beklagten sich Sven und seine Mutter über Mobbing und darüber, dass die Lehrerin nicht eingegriffen hätte. Der Kläger suche stets die "Schuld" bei anderen, lautet die Einschätzung des Jugendamtes dazu. Offensichtlich sei Sven nicht in der Lage, die Ursache für seine sozialen Probleme bei sich oder in der Beziehung zu seiner Mutter zu sehen.

Ich bin vielleicht ein wenig gluckenhaft, aber ich halte wenigstens zu ihm", sagt Ellen Schrem, eine freundliche, ein wenig füllige Frau. Man glaubt es, die Schrems leben in einer ordentlichen, aufgeräumten Wohnung. Am Küchenfenster steht hölzerner Adventsschmuck. Kater Dickie liegt faul auf Svens Bett. Aber ist das vielleicht alles zu viel des Guten?

In einem Bericht steht, dass die Mutter ihrem Sohn den Schulranzen an den Tisch brachte. "Ich habe ihn einmal in die Schule geprügelt, aber das würde ich nie wieder machen", sagt Ellen Schrem. Beim Jugendamt würde sie auch nie wieder Rat suchen: "Ich habe um Hilfe gebeten, weil die Schule versagte und dann passierte das alles." Und jetzt, wie soll das jetzt alles weitergehen? Weiterklagen wollen sie, falls es eine Niederlage gibt vor Gericht, und falls das mit der Rechtsschutzversicherung klappt. Und mit dem Leben, wie soll das weitergehen? Mhm. Sven schaut verlegen und zuckt mit den Schultern.

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