Kindstod in Tirschenreuth:Zwischen Wut und Ratlosigkeit

In der Oberpfalz ließ eine Mutter ihr zweijähriges Kind verhungern. In der idyllischen Stadt macht sich Wut und Ratlosigkeit breit.

Jürgen Schmieder, Tirschenreuth

Wer am Ortsschild von Tirschenreuth vorbeifährt, der fühlt sich, als würde er das Tor zu einer heilen Welt durchschreiten. "Willkommen" heißt es am Ortseingang, darunter hängt ein Plakat, auf dem die Passionsspiele der Kreisstadt beworben werden, auf dem Bolzplatz laufen Kinder einem Ball hinterher. Die Menschen kaufen Milch und Eier nicht im Supermarkt, sondern direkt vom Bauern. Sie spazieren nicht in angelegten Parks, sondern um Hunderte von natürlichen Teichen, abends treffen sie sich in gemütlichen Kneipen.

Tirschenreuth, das ist ein Ort, an dem die Welt noch in Ordnung ist. Jeder kennt jeden, jeder mag jeden - die meisten arbeiten bei einem der drei großen Unternehmen: einer Walzenfabrik, einem Hemdenhersteller oder einem Technologieunternehmen. Diese heile Welt wurde erschüttert, gewaltig erschüttert. Am Samstag ist dort ein zweijähriges Mädchen gestorben. An Unterernährung.

Nicht weit von dem "Willkommen"-Schild findet der Besucher ein anderes Plakat. Es ist eher ein Zettel, der an die Tür eines Gartenzauns angebracht ist. Darauf steht: "Warum?" Die Bewohner dieser Idylle können nicht glauben, dass eine 21-jährige Mutter ihr Kind habe verhungern lassen. Anderswo, ja anderswo, da kann das schon vorkommen. Aber hier? Niemals!

Birgit W., die alleinerziehende Mutter des Mädchens, hatte ihre Tochter am Samstag tot im Bett gefunden. Eine Obduktion ergab, dass Lea an Unterernährung, Flüssigkeitsmangel und diversen weiteren Erkrankungen litt. Nach Auffassung der Mediziner hätte das Mädchen bei einem rechtzeitigen Arztbesuch gerettet werden können.

Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer geht indes nicht davon aus, dass Lea absichtlich Nahrung verweigert wurde. Das Kind habe aufgrund einer Krankheit nichts mehr zu sich genommen. Die Mutter habe aber den Tod Leas billigend in Kauf genommen. "Wenn sie stirbt, ist's mir auch egal", so der Verdacht von Schäfer. Ihr müsse klar gewesen sein, dass das Kind in Lebensgefahr war, sagte Schäfer.

Die Trennung vom 27 Jahre alten Kindsvater könne aber nicht der unmittelbare Auslöser gewesen sein. "Das war schon mehrere Monate her", sagt Schäfer. Der Vater sei bereits vernommen worden. "Es gibt derzeit keinen Grund für Ermittlungen gegen ihn." Jens W. kümmere sich um das zweite gemeinsame Kind, einen vierjährigen Jungen. Dem Bruder des toten Mädchens, der bislang ebenfalls bei der Mutter lebte, sei zumindest äußerlich keine Verwahrlosung anzusehen.

Die Mutter ist vielen Einwohnern bekannt, man traf sie beim Einkaufen und hin und wieder auch beim Ausführen des Hundes. Vor allem aber traf man sie im Internet. "Ich schenk dir ein Lächeln, so gut ich es kann, ich warte nicht erst lange, fang gleich damit an." So liebevoll wandte sich Birgit W. an ihre sieben Jahre ältere Internet-Freundin. Ihr Pseudonym war "nettesengerl88", sie gehörte einer Gruppe an, die den Titel "Ich liebe mein Kind über alles auf der Welt" trägt. Noch am Tag zuvor trug sie sich im Gästebuch der Online-Community spin.de ein und meldete sich für ein Online-Turnier an, das am 1. April stattfinden sollte.

In der Stadt macht sich nun Ratlosigkeit und Wut breit. Bekannte berichten, dass die Wohnung "extrem verwahrlost" und "zugemüllt" gewesen sei. Um den Familienhund habe sich die Frau aber gut gekümmert. "Der Fressnapf war voll bis zum Rand", sagt einer, der die Räume kennt. Oberstaatsanwalt Gerd Schäfer sagt, den Zustand der Wohnung könne man unterschiedlich beurteilen. "Blitzblank" sei es aber nicht gewesen.

Tirschenreuth ist nicht nur ein Ort, wo jeder jeden kennt. Es ist auch ein Ort, an dem jeder auf jeden aufpasst - und hin und wieder auch beobachtet. So hatte bereits vor einem halben Jahr eine Nachbarin dem Jugendamt gemeldet, dass die zweijährige Lea und ihr vier Jahre alter Bruder nicht mehr so oft im Garten zu sehen seien. Die Kinder winkten nur aus dem Fenster. Außerdem kümmere sich der Großvater der Kinder, der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnt, häufig um sie.

Nun fragen sich die Einwohner, warum das Jugendamt auf diesen Hinweis nicht reagiert hat. "Die Fachkraft hat die Situation so beurteilt, dass keine akute Gefährdung der Kinder bestand und deshalb auch nicht reagiert. Das war ein schlimmer Fehler", sagt Josef Hecht, Sprecher des Landratsamtes Tirschenreuth.

Jugendamtsleiter Albert Müller sagt: "Ich kann nicht verstehen, warum dem nicht nachgegangen wurde." Normalerweise würden Familien von zwei Mitarbeitern des Jugendamtes besucht, wenn ein Hinweis eingeht. Etwa 50 Hinweise pro Jahr gäbe es im Landkreis, Personalnot dürfe nicht als Entschuldigung gelten. "Es ist schon manchmal eng, aber notfalls müssen halt Überstunden gemacht werden", sagt Müller.

Das "Willkommen"-Plakat baumelt auch beim Hinausfahren noch am Eingang. Es ist der Eingang eines Ortes, an dem seit ein paar Tagen nichts mehr heil ist.

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