Madita und die anderen stolpern über eine tote Maus. Sie liegt mitten auf dem Kiesweg, der zu ihrem Kindergarten führt. Eifrig und das Schicksal der Maus bedauernd betten die Kinder sie am Wegesrand, bedecken sie mit Blättern, pflücken ihr eine Schlüsselblume und ein Leberblümchen, umrahmen das Grab mit Zweigen. "Tschüss Maus", klingt es aus sechs Kindermündern. Dann laufen sie weiter hinauf, in den Wald hinein, diskutieren, wer oder was Schuld am Tod der Maus haben könnte. "Vielleicht war es ein Mäusebussard", sagt einer, "oder eine Eule", ein anderer.
"So schnell geht das, und die Natur gibt uns ein neues Thema, über das wir mit den Kindern reden können, in dem Fall eben den Tod", sagt Nina Schoepe mit Blick auf die mit Gummistiefeln und Regenhosen bekleideten Kinder. Die 29-Jährige ist die Leiterin des Waldkindergartens Holzwurm in Eisenärzt bei Ruhpolding; über ihre Rolle als Kindergärtnerin im Wald sagt sie: "Wenn man spontan bleibt und sich zurücknimmt, dann übernimmt die Natur von ganz allein die Rolle des Erziehers."
Kinderbetreuung:Immer mehr private Firmen betreiben Kitas in München
Die Stadt bietet so attraktive Fördermodelle wie kaum eine andere Kommune in Deutschland. Die Einrichtungen müssen allerdings einige Bedingungen erfüllen, um an Gelder zu kommen.
Der Waldkindergarten Holzwurm ist einer der jüngeren Waldkindergärten in Bayern. Mit seiner Gründung am Diesselbach bei Eisenärzt im Jahr 2014 reagierten Schoepe und ihre Kollegin Sarah Leifeld auf die große Nachfrage nach Waldkindergartenplätzen in der Gemeinde Siegsdorf. "Wir haben mit 18 Kindern angefangen, was für den Anfang schon sehr viel war", erinnert sich Schoepe. Doch schon im ersten Jahr musste die Anzahl der Plätze aufgrund des "überragenden Zulaufs" aufgestockt werden.
Heute betreuen Schoepe und ihre Kolleginnen 36 Kinder in der Regelgruppe und bieten daneben eine Spielgruppe für zwei- bis dreijährige Kinder an, die zwei Mal pro Woche zusammenkommt. Damit ist der Waldkindergarten, der am Rande des engen Tals zwischen Siegsdorf und Ruhpolding liegt, im vierten Jahr seines Bestehens schon einer der größeren in Bayern.
Sieben Wald- und Naturkindergärten wurden allein in den vergangenen zwölf Jahren im Landkreis Traunstein gegründet; zwei weitere sind momentan im Entstehen. Exakte Zahlen, wie viele Wald- und Naturkindergärten es aktuell in ganz Bayern gibt, existieren nicht. Nach einer Schätzung des Landesverbands Wald- und Naturkindergärten in Bayern, der 144 Kindergärten zu seinen Mitgliedern zählt, dürften es jedoch zwischenzeitlich weit mehr als 300 sein. Immerhin 30 bis 40 Startpakete verschickt der Landesverband pro Jahr vorwiegend an Elterninitiativen, die zumindest mit dem Gedanken spielen, einen Waldkindergarten zu gründen.
Das Konzept findet immer mehr Anhänger
Vor 20 Jahren, Mitte bis Ende der Neunzigerjahre, entstanden die ersten Kindergärten dieser Art im Freistaat. Was damals noch eine Ausnahmeerscheinung war, findet seither immer mehr Anhänger. Das Konzept, Kinder ihre Vorschulzeit draußen in der Natur verbringen lassen, ist beliebt wie nie. Das zeigen nicht allein die Zahlen.
Auch Franz Huber beobachtet diese Entwicklung. Und er muss es wissen. Als Mitgründer und Vorsitzender des Landesverbands hat er die Situation der Waldkindergärten seit ihren Anfängen im Blick. Für Huber ist die Waldpädagogik auch deshalb so beliebt, weil sie eine Antwort auf den steigenden Leistungsdruck und Egoismus in der modernen Gesellschaft sei und außerdem die - aus seiner Sicht - "zeitgemäßeste Form der Frühpädagogik" darstelle.
Hinzu kommt die demografische Entwicklung. Seit 2011 steigt die Zahl der Neugeborenen nach Daten des Statistischen Landesamts in Bayern wieder an. Mehr Kinder erfordern mehr Kindergartenplätze, und weil sie in ihrer Errichtung und im Unterhalt günstiger sind als Regelkindergärten, sind Waldkindergärten in den Kommunen oft eine gern gesehene Alternative. Diese Entwicklung ist auch im Landkreis Landshut erkennbar, wo Huber Ende der Neunzigerjahre mit engagierten Eltern vier der ersten Waldkindergärten in Bayern aufgebaut hat.
Mit durchschnittlich 1,72 Kindern pro Frau ist der Landkreis in der aktuellen Geburtenstatistik Spitzenreiter; für die Betreuung des Landkreisnachwuchses stehen insgesamt 63 Kindergärten zur Verfügung. Sieben davon sind Waldkindergärten, an sechs Regelkindergärten gibt es zusätzliche Waldgruppen, und ein weiterer Waldkindergarten befindet sich derzeit in der Genehmigungsphase.
Zu den bevölkerungspolitischen Gründen kommt die Überzeugung der Eltern. Huber stellt fest, dass immer mehr Eltern, die sich Gedanken darüber machen, was für ihr Kind im Vorschulalter wichtig ist, auf das Konzept der Waldpädagogik stoßen. Denn "den jungen Persönlichkeiten Zeit zum Reifen geben", sagt Huber, das sei nirgendwo besser möglich als in der Natur.
Das Image der Öko-Eltern, die ihre Kinder in den Waldkindergarten schicken, hat dabei längst ausgedient. Eltern aus allen sozialen Schichten entscheiden sich mittlerweile für diese Form der Betreuung. Fragt man die Eltern der Eisenärzter Waldkindergartenkinder, warum sie sich für diesen Kindergarten entschieden haben, begründen sie ihre Entscheidung so: "Es gibt doch für ein Kind nichts Schöneres, als draußen zu sein", "die Kinder sind noch lange genug eingesperrt", oder "sie können einfach viel lernen von der Natur", heißt es da.
Im letzten Punkt gibt ihnen die Wissenschaft recht. Die Liste der vielfach untersuchten Vorteile für Kinder, die einen Wald- oder Naturkindergarten besuchen, ist lang: Die Grobmotorik wird besser entwickelt, das Immunsystem gestärkt, Kreativität und Fantasie gefördert, die Sprachentwicklung unterstützt. Auch lernen die Kinder den Umgang mit Gefahren besser einzuschätzen. Nina Schoepe erklärt das am Beispiel des Schnitzmessers: "Natürlich tut sich ab und zu mal einer weh. Aber wenn die Kinder schon im Kindergartenalter lernen, mit einem scharfen Messer umzugehen, dann fördern wir nicht nur ihre Konzentration, sondern auch den Umgang mit realen Gefahren."
Von all diesen Überlegungen haben Madita und ihre Spielkameraden aus dem Eisenärzter Waldkindergarten keine Ahnung. Sie nehmen ihre Tage im Wald ganz einfach, wie sie kommen. Und wenn an einem dieser Tage eine Maus begraben werden will, dann wird sie das eben. Ohne großes Aufsehen, ohne Scheu und Ekel.