Süddeutsche Zeitung

Fürstenfeldbruck:Das Dilemma mit den Kinderärzten

Manche Praxen nehmen keine neuen jungen Patienten mehr auf, weil die Zeit für die Behandlung fehlt. Dabei gilt der Landkreis laut offizieller Statistik als überversorgt. In ganz Bayern beklagen sich Eltern über diese Problematik.

Von Marisa Gierlinger, Fürstenfeldbruck

Eigentlich sind sich alle einig, dass es ein Problem gibt. Ärzte klagen über einen ausufernden Zeitaufwand und nicht zu bewältigende Patientenzahlen, die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) spricht von einer "vor Ort als nicht ausreichend erlebten" kinderärztlichen Versorgung in zahlreichen Regionen des Landes. Und immer wieder hört man von verzweifelten Eltern, die nicht mehr wissen, wohin sie sich mit ihren kranken Kindern wenden können.

Wie Elke Scherer. Vor fünf Jahren kommt sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern nach Fürstenfeldbruck. "Wir dachten uns damals, jetzt ziehen wir in eine Kreisstadt, da haben wir alles, da gibt es kurze Wege", sagt die heute 44-Jährige. Als beide Kinder an Streptokokken erkranken und der erste Arztbesuch in der neuen Heimat ansteht, stößt die Familie auf verschlossene Türen. "Halsschmerzen, Fieber, das ganze Programm" hätten die damals vierjährige Tochter und der dreijährige Sohn gehabt, erinnert sich Scherer. Freunde und Bekannte empfahlen verschiedene Kinderärzte, bei genauerem Nachfragen allerdings habe sich herausgestellt, dass die Kinder der Bekannten dort bereits zu den langjährigen Patienten zählten. Elke Scherer indes drang bei allen Praxen im Stadtgebiet nur bis zur Sprechstundenhilfe durch - und wurde dort abgewimmelt. Man nehme keine Neupatienten auf, lautete regelmäßig die Antwort. Da sie angebotene Notversorgungsoptionen wie einen Schnelltest durch die Arzthelferin als nicht ausreichend empfand, wandte sich die zweifache Mutter damals an das Krankenhaus.

Die Lage scheint sich seither nicht gebessert zu haben - im Gegenteil. Herbert Rohr ist Kinderarzt in Fürstenfeldbruck. Neupatienten nimmt er in der Regel keine auf - seine Kapazitäten sind erschöpft. Seit 20 Jahren praktiziert er in Fürstenfeldbruck, seitdem sieht er sich mit immer mehr Aufgaben konfrontiert. Dazu gehören vermehrte Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen, aber auch Erstberatung in sozialpsychiatrischen Belangen. Den Stellenwert solcher ärztlichen Aufgaben will Rohr nicht kleinreden, im Gegenteil betont er, dass er sich gerade hier als wichtigen erster Ansprechpartner sieht. Das Problem sei eher der zeitliche Aufwand: "Wenn wir seriös arbeiten wollen, müssen wir uns für die Patienten Zeit nehmen." Gemeinsam mit dem bürokratischen Zusatzaufwand, der in den zurückliegenden Jahren für die Ärzte zugenommen habe, bedeute das einen erheblich gestiegenen Zeitbedarf pro Patient - und damit eine geringere Patientenzahl, die ein Arzt bewältigen kann. Der Rest fällt dem Aufnahmestopp zum Opfer. In der Theorie steht gesetzlich Versicherten die freie Arztwahl zu, in der Praxis haben sie Glück, halbwegs wohnortnah aufgenommen zu werden.

Grundsätzlich dürfen Vertragsärzte, die an die Grenzen ihrer Kapazitäten stoßen, einen Aufnahmestopp ausrufen. Offiziell ist dieser unabhängig davon, ob der Patient gesetzlich oder privat versichert ist, doch Stefan Leps weiß, dass Privatpatienten es oft leichter haben, einen Platz zu finden. Er ist einer derjenigen Kinderärzte, die viele Patienten aus anderen Wohnorten auffangen. In seiner Gemeinschaftspraxis in Puchheim versorgt er Patienten aus Fürstenfeldbruck, Dachau und auch aus München. Wie Herbert Rohr verzeichnet auch er bei seiner Arbeit zusätzliche Aufgabenstellungen; aber auch die Anspruchshaltung der Patienten habe sich geändert. Die Patienten kämen "wegen Schnupfen, einem Insektenstich oder anderen Befindlichkeitsstörungen". 80 Prozent der Arztbesuche machten solche Banalitäten aus, Sensibilität für wirkliche Krankheitsfälle sei oft nicht gegeben. Nicht nur in seinem Fachbereich habe sich dies in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zum Problem entwickelt - und koste viel Zeit. Ein wesentlicher Teil der Arbeit seines Personals sei es mittlerweile, herauszufiltern, bei welchen Patienten eine ärztliche Behandlung überhaupt notwendig sei.

Offiziell gilt der Landkreis als überversorgt

Vor wenigen Wochen sucht eine weitere Mutter in einer örtlichen Facebook-Gruppe Rat. Sie brauche dringend einen Kinderarzt und höre von allen Seiten nur von Aufnahmestopps. Mehrere Eltern beteiligen sich an der Diskussion, berichten von ähnlichen Erfahrungen, tauschen aber auch Empfehlungen aus. Die Mutter erzählt später, dass die Ratschläge langfristig hilfreich waren - in der Situation selbst musste allerdings auch sie auf das Krankenhaus ausweichen, wo die entzündete Wunde ihres Kindes kurzfristig behandelt wurde.

Wenn man diese Stimmen von Patienten sowie Ärzten hört, scheint eine Lösung naheliegend - es bräuchte schlicht mehr Kinderärzte im Landkreis. Das Problem: Im Landkreis Fürstenfeldbruck dürfen sich nicht mehr Kinderärzte niederlassen. Offiziell gilt der Landkreis als überversorgt. Das geht zumindest aus der bundesweiten vertragsärztlichen Bedarfsplanung hervor, welche eine bedarfsdeckende und wohnortnahe ärztliche Versorgung gewährleisten soll. Zuständig für diese Planung ist der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen. Er beruft sich auf eine "allgemeine Verhältniszahl", die - unverändert seit 1993 - das als angemessen bewertete Soll-Verhältnis zwischen jeweiliger Arztgruppe und Einwohnern in einem Planungsbereich, in diesem Fall also dem Landkreis, angibt. Dieses Verhältnis - in Fürstenfeldbruck sind das 3587 Kinder unter 18 Jahren pro Kinderarzt - markiert eine Versorgungsquote von 100 Prozent. Eine Überversorgung beginnt bei 110 Prozent. Von diesem Punkt an sind keine Neuzulassungen mehr möglich. Diesen Rechnungen zufolge liegt die Versorgungsrate in Fürstenfeldbruck mit 18 Kinderärzten, die auf 38 300 minderjährige Einwohner (Stand Dezember 2017) kommen, bei 163,9 Prozent.

Dass die Versorgung dennoch als mangelhaft empfunden wird, ist Michael Stahn von der KVB bewusst. Er spricht von Rückmeldungen von Eltern, Politikern und Kinderärzten, welche die Vereinigung aus etlichen bayerischen Regionen erreichen. Und das, obwohl "nahezu alle kinderärztlichen Planungsbereiche" des Bundeslands der bisherigen Berechnung nach als überversorgt gelten und für Neuzulassungen gesperrt sind. Da die entsprechenden Bedarfsplanungsrichtlinien bundesweit vorgegeben sind, habe die KVB "keine rechtlichen Handlungsspielräume", um davon abzuweichen.

Laut dem gemeinsamen Bundesausschuss, der die Planungsrichtlinien im Auftrag des Gesetzgebers aufstellt und überprüft, soll das seit Kurzem anders aussehen. Am 30. Juni trat ein Beschluss in Kraft, der durch "differenziertere und zusätzliche Instrumente für die Landesebene" eine bedarfsorientierte Verteilung von Vertragsärzten erlauben soll. Dadurch soll den Kassenärztlichen Vereinigungen der Bundesländer mehr Flexibilität und Abweichungsmöglichkeiten von den zentralen Beschlüssen eingeräumt werden. Bundesweite Verhältniszahlen wird es zwar in der jetzigen Form weiterhin geben, einige von ihnen, darunter die Zahlen für Kinder- und Jugendärzte, wurden allerdings nach unten korrigiert, um auf die bestehende Problemlage einzugehen.

Die Ärzte Herbert Rohr und Stefan Leps zeigen sich skeptisch, was die Reformen betrifft. Das Hauptproblem bei der Bedarfsplanung, so Rohr, sei die Tatsache, dass im Planungsbereich Landkreis gedacht werde. Es werde demnach nicht vorgeschrieben, wo im Landkreis die Kollegen niedergelassen sind. So kommt es, dass in Germering beispielsweise sechs Kinderärzte vertreten sind, in der gesamten westlichen Hälfte des Landkreises allerdings gerade einmal zwei, beide in Grafrath. Von einer "bedarfsgerechten, wohnortnahen Versorgung" könne demnach keine Rede sein. Stefan Leps beklagt zudem, dass in der Planung nicht schnell genug agiert werde, um etwa bedarfsgerecht auf einen raschen Patientenzuwachs durch entstehende Neubaugebiete einzugehen.

Die Ende Juni in Kraft getretene Weiterentwicklung der Bedarfsplanungsrichtlinien soll innerhalb der nächsten sechs Monate von den Kassenvereinigungen der einzelnen Bundesländer umgesetzt werden. In welchem Ausmaß die aktuellen Änderungen und die den Ländern eingeräumten "regionalen Abweichungsmöglichkeiten" im Kleinen ihre Wirkung zeigen, bleibt abzuwarten. Ein konkretes Resultat der Planungsreform ist jedenfalls die abgesenkte Verhältniszahl: Im Fall von Fürstenfeldbruck hat sich das Soll-Verhältnis dadurch von 3587 Kindern unter 18 Jahren pro Kinderarzt auf 2862 reduziert. Danach hätte der Landkreis offiziell allerdings immer noch einen Überschuss von mindestens vier Ärzten. Zusätzliche Niederlassungen von Kinderärzten sind dementsprechend auch in näherer Zukunft nicht zu erwarten.

Elke Scherer, die Mutter aus Fürstenfeldbruck, die verzweifelt nach einem Kinderarzt gesucht hatte, ist mit ihren beiden Kindern nun in einer Gemeinschaftspraxis in Grafrath untergekommen. Sie sagt: "Das bedeutet zwar mehr Fahrerei, aber wir sind dort sehr glücklich."

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SZ vom 22.08.2019/huy
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