NS-Geschichte:„Butter, Vieh, Vernichtung“

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Papiere eines Zwangsarbeiters, der 1940 offenbar nach Kempten verschleppt worden war. (Foto: Florian Fuchs)

In Kempten wird die NS-Vergangenheit des ländlichen Allgäus aufgearbeitet. In einer Ausstellung soll es vor allem um das Schicksal der Zwangsarbeiter gehen, die auf Bauernhöfen ausgebeutet wurden.

Von Florian Fuchs, Kempten

Die Eisenringe sind noch da, fest verankert im Beton. Sie dienten dazu, das Vieh anzubinden, während des Nationalsozialismus aber waren die Eisenringe wie die gesamte Kälberhalle in Kempten Kulisse für die Ausbeutung von Zwangsarbeitern. Die Halle diente als Außenlager des Konzentrationslagers Dachau, „sie ist noch wirklich in dem Zustand wie damals, als die Häftlinge hier waren“, sagt Christine Müller-Horn.

Die Museumsleiterin der Stadt Kempten stellt in der Kälberhalle das Projekt „Butter, Vieh, Vernichtung – Nationalsozialismus und Landwirtschaft im Allgäu“ vor: Seit 2021 arbeitet Kempten in einer überregional beachteten Initiative die Geschichte der Stadt im Nationalsozialismus auf, „Butter, Vieh, Vernichtung“ soll den Blick auf das gesamte ländliche Allgäu richten – und auf die Schicksale der Zwangsarbeiter, die teils hierher verschleppt wurden und für die Kriegswirtschaft leiden mussten.

Wie durchdrang die NS-Ideologie den ländlichen Raum, wie wurden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt, wie verfolgten und verdrängten die Nationalsozialisten jüdische Familienbetriebe? Das sind die Leitfragen des Projekts, das in einem Jahr in eine Ausstellung in der Kälberhalle münden soll, mit den Ergebnissen aus wissenschaftlicher Forschung, etwa in Gemeindearchiven, und den Arbeiten aus Workshops, an denen Bürger mitwirken können.

Die Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Kultur ist Kern des Projekts, das die Allgäuer dazu anhalten soll, sich mit dem Thema, vielleicht auch in der eigenen Familie, zu beschäftigen. „Es geht darum, dass wir das schwere Erbe der Vergangenheit bewahren und zugänglich machen, in die heutige Sprache übersetzen und in Austausch kommen mit der Bevölkerung, auch angesichts der großen Herausforderungen, denen unsere Demokratie ausgesetzt ist“, sagt Oberbürgermeister Thomas Kiechle (CSU).

Ganz konkret geht es den Verantwortlichen aber auch darum, an Dokumente, Fotos oder Geschichten zur Zwangsarbeit auf Bauernhöfen oder landwirtschaftlichen Produktionsstätten zu kommen. Gerade Bildmaterial ist rar. „Als Historikern weiß ich: Geschichte liegt auf Dachböden und in Familienalben“, sagt Sonja Begalke, Fachreferentin der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die sich unter anderem der Aufarbeitung des NS-Zwangsarbeitersystems widmet und das Projekt fördert.

26 Millionen Menschen wurden damals europaweit zur Arbeit gezwungen, 13 Millionen ausländische KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und zivile Arbeitskräfte in das Deutsche Reich verschleppt. „Man brauchte diese Menschen, weil Männer an der Front waren, man brauchte sie, um Lücken zu füllen und Produktionszahlen zu erfüllen“, sagt Begalke. Wobei das Zwangsarbeitersystem auch ein Instrument der Unterdrückung gewesen sei, tatgewordene Rassenideologie.

Dem Unrecht selbst nachzuspüren, kann wertvoller sein, als Bücher darüber zu lesen

„Butter, Vieh, Vernichtung“ solle darstellen, wie die Landwirtschaft systematisch gleichgeschaltet, ins NS-System eingebunden und wie das Allgäu an den sogenannten Reichsnährstand angegliedert wurde, sagt Veronika Heilmannseder, Projektleiterin des Vereins Cultura Kulturveranstaltungen, mit dem die Stadt Kempten zusammenarbeitet. Beispielhaft will die Initiative Biografien der Zwangsarbeiter auf den Höfen zeigen, es gebe wenig gesichertes Wissen über die Auswirkungen des NS-Regimes im Allgäu, erläutert Heilmannseder.

Die künstlerischen Workshops werden nicht nur in der Kälberhalle oder dem Kempten-Museum stattfinden, sondern auch am Erinnerungsort Bahnhof Fellheim und der Milchsammelstelle Thal in Bad Grönenbach. Der erste Workshop ist eine visuelle Spurensuche an Orten nationalsozialistischer Verbrechen im Allgäu mit dem Fotografen Armin Smailovic. Teilnehmer sollen sich mit der Kamera den Geschichten der Opfer von NS-Zwangsarbeit sowie der Täter im Allgäu bildlich nähern. Man könne viele Bücher lesen, sagt Sonja Begalke, doch Workshops oder mit Bürgern und Schülern auf Bauernhöfen direkt ins Gespräch zu kommen, sei ein deutlich niedrigschwelliger und damit vielversprechender Zugang.

Junge Leute können kaum noch Zeitzeugen befragen. Eine Studie, berichtet Begalke, habe gezeigt, dass es jungen Menschen deshalb am wichtigsten sei, historische Stätten kennenzulernen. Insofern bezeichnet es Museumsleiterin Müller-Horn als „historischen Schritt“ für Kempten, dass die Stadt die Erinnerungskultur aktiv angehe und dass die Ausstellung zu den Ergebnissen der Workshops und der wissenschaftlichen Recherche zum Thema in der Kälberhalle stattfinden wird. Es ist das erste Mal, dass eine solche Ausstellung auf diesem authentischen Areal stattfindet, den nicht nur Müller-Horn auch darüber hinaus gerne als Erinnerungsort nutzen würde.

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