Ausstellung in Kempten:Zeitweise ein Zuhause

Ausstellung in Kempten: Mit ihrem Protestzug erinnerten die Bewohner des Displaced-Persons-Lagers in Kempten 1947 an die Atlantik-Charta von 1941. Das Selbstbestimmungsrecht aller Völker sollte auch für die baltischen Staaten gelten.

Mit ihrem Protestzug erinnerten die Bewohner des Displaced-Persons-Lagers in Kempten 1947 an die Atlantik-Charta von 1941. Das Selbstbestimmungsrecht aller Völker sollte auch für die baltischen Staaten gelten.

(Foto: Kazys Daugèla)

Eine Ausstellung im Kempten Museum arbeitet ein bislang unerforschtes Kapitel der Stadtgeschichte auf: den Lageralltag von baltischen Flüchtlingen zwischen 1945 und 1949, eingefangen vom litauischen Fotografen Kazys Daugèla.

Von Sabine Reithmaier, Kempten

"Freiheit bedeutet mehr als Essen" - das Banner mit dem riesigen Schriftzug versperrt den Zugang zum Speisesaal, die Schulkinder stehen ein bisschen ratlos davor. Die Aufnahme des litauischen Fotografen Kazys Daugèla erinnert an den eintägigen Hungerstreik, mit dem die Bewohner des Displaced-Persons-Lagers in Kempten Politiker an die Atlantik-Charta von 1941 erinnern wollten. Darin hatten sich Amerikaner und Briten zum Selbstbestimmungsrecht aller Völker bekannt. Das gelte auch, so fanden die Demonstranten, deren langer Protestzug auf einem weiteren Foto zu sehen ist, für die baltischen Staaten, die ihre nach dem Ersten Weltkrieg so mühsam errungene Souveränität im Zweiten wieder verloren hatten. Der Protest blieb bekanntlich ungehört.

Kazys Daugèla fotografierte diese Szenen 1947, als er selbst in dem Lager lebte. "Meine Bekanntschaft mit dem Lagerleben begann, als meine Frau, meine fünf Monate alte Tochter und ich die Tür zu dem uns zugewiesenen Zimmer öffneten", schreibt er in seinen Erinnerungen. Was die Familie sah, waren jede Menge doppelstöckige Betten. "Wie Heringe in einem Fass", kommentierte seine Frau die Unterbringung. Ihre Mitbewohner waren wie sie Displaced Persons (DPs), wie die Alliierten jene Menschen nannten, die wegen des Kriegs ihre Heimat verloren hatten: verschleppte Zwangsarbeiter, KZ-Überlebende, ehemalige Kriegsgefangene oder auch Menschen, die vor der anrückenden Roten Armee geflohen waren. Mehr als 200000 Litauer, Letten und Esten hatten sich in den letzten Kriegsmonaten auf den Weg in den Westen gemacht; viele der baltischen Flüchtlinge - mehr als 1300 allein aus Litauen - kamen in Kempten unter, lebten hier zwischen 1945 und 1949.

Dass dieses bislang unerforschte Kapitel der Kemptener Stadtgeschichte jetzt gründlich aufgearbeitet worden ist, verdankt die Stadt der Initiative und der Forschung des Kemptener Historikers und ehemaligen Gymnasiallehrers Wolfgang Petz, der nicht nur mit den Verwandten des 1999 verstorbenen Fotografen Kontakt aufnahm, sondern auch zahlreiche Zeitzeugen ausfindig machte, die ihm über das Lager berichteten. Die Ergebnisse seiner akribischen Arbeit sind nicht nur im sehr empfehlenswerten Katalog "Zuflucht auf Zeit" (Likias-Verlag) nachzulesen, sondern dank der Fotos Kazys Daugèlas derzeit auch in einer Sonderausstellung im Kempten-Museum nachzuerleben.

Ausstellung in Kempten: Alltagsleben im Kemptener Lager: Kinder bei der morgendlichen Breimahlzeit in der großen Speisehalle.

Alltagsleben im Kemptener Lager: Kinder bei der morgendlichen Breimahlzeit in der großen Speisehalle.

(Foto: Kazys Daugèla)

Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen des litauischen Fotografen erzählen vom Alltagsleben im Lager, das im Nordflügel der Residenz und dem angrenzenden Kasernengelände untergebracht war. Daugèla, ein scharfer Beobachter mit Sinn fürs Detail, macht auch ohne Worte klar, wie eng es überall war. Sogar der Dachboden der Residenz wurde als Wohnraum genutzt, drei aufeinander getürmte Koffer ergaben einen Schreibtisch. Die Lebensmittel waren knapp, die schwarz geangelten Fische wurden, unter ständiger Bewachung, im Freien geräuchert. Für die Kemptener war das Gelände "off limits", wie die Schilder am Lagereingang unmissverständlich klarmachten.

Ausstellung in Kempten: Auch der Dachboden der Residenz wurde als Wohnraum genutzt, in dem drei aufeinander getürmte Koffer einen Schreibtisch ergaben.

Auch der Dachboden der Residenz wurde als Wohnraum genutzt, in dem drei aufeinander getürmte Koffer einen Schreibtisch ergaben.

(Foto: Kazys Daugèla)

Da sich die Balten in ihren Lagern selbst verwalteten, gab es wenig Berührungspunkte zu den Einheimischen, die die DPs in diesen Zeiten des Mangels möglichst schnell wieder loswerden wollten. Tatsächlich verließen nahezu alle Flüchtlinge die Stadt wieder. Auch Daugèla, der, von Beruf Vermessungsingenieur, in Kempten als Englischlehrer arbeitete, schiffte sich im März 1949 nach New York ein. Später arbeitete er in New Hampshire als Bauingenieur, spezialisierte sich als Fotograf auch auf Bauthemen; die meisten seiner Bilder sind heute im Architekturmuseum in Vilnius zu sehen.

"Wohnzimmer der Stadt"

Beeindruckende Sonderausstellungen wie diese gehören zum Konzept des Kempten-Museums im Zumsteinhaus, einem klassizistischen Palais aus dem Jahr 1802, schräg gegenüber der früheren fürstlichen Residenz und der Basilika. Lange war hier das Römische Museum und ein Naturkundemuseum untergebracht, bevor sich die Stadt 2015 entschied, das denkmalgeschützte Gebäude zu sanieren und ein neues Stadtmuseum einzurichten. Das Haus, erst 2019 eröffnet, schreibt Partizipation groß, versteht sich als "Wohnzimmer der Stadt".

Ausstellung in Kempten: Das Kempten-Museum im Zumsteinhaus, einem klassizistischen Palais aus dem Jahr 1802.

Das Kempten-Museum im Zumsteinhaus, einem klassizistischen Palais aus dem Jahr 1802.

(Foto: Hermann Rupp)

Dass das Museum keinen Eintritt kostet, erleichtert den schnellen Besuch. Die Dauerausstellung sei durchwoben mit Anregungen, Exponaten, Filmen und Fotografien der Bevölkerung, sagt Jana Möller-Schindler vom Kulturamt der Stadt. Schon bei der Entwicklung seines Konzepts waren die Bürger und Bürgerinnen intensiv beteiligt. Auch die Themen der Sonderausstellungen liefern ausschließlich die Kemptener. "An Bewerbungen mangelt es uns nicht, der Raum ist auf Jahre voraus ausgebucht", berichtet Möller-Schindler.

Der Besuch des Hauses lohnt sich auch unabhängig von den Sonderausstellungen, nicht nur wegen der spektakulären spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alltagsgegenstände, die 1996/97 in verfüllten Hohlräumen eines Altstadthauses entdeckt wurden. Das Museum ist nicht besonders groß, hat gerade mal 600 Quadratmeter Ausstellungsfläche. Verteilt auf zwei Obergeschosse werden in elf Räumen Themen beleuchtet, die Kempten seit 2000 Jahren umtreiben: Macht und Ohnmacht, Glauben, Stadtraum, Produktion, Neue Heimat Kempten, Verkehr, Markt, Wohnen, Gesundheit, Freizeit und - anscheinend ganz wichtig - die Allgäuer Festwoche.

Ein Muss in jedem Raum ist die Verankerung der Stadtgeschichte in ihren antiken Anfängen durch ein römisches Exponat, aber auch der jeweilige Gegenwartsbezug, verdeutlicht durch die regelmäßig ausgetauschten "Heute-Objekte". Auch bei letzteren obliegt die Auswahl Bürgern, Vereinen oder Schulen aus Kempten, die dem Museum nicht nur ein Exponat leihen, sondern auch erzählen, welche Bedeutung der Gegenstand für sie hat. Medienstationen vertiefen das Angebot.

Der Aufwand lohne sich, findet Jana Möller-Schindler. Nicht nur, weil die Hamburger Stiftung "Lebendige Stadt" das Kempten-Museum unter 250 Bewerbern im Jahr 2020 als Deutschlands bestes Heimatmuseum ausgezeichnet hat. Sondern weil die Kemptener das Haus tatsächlich als "ihren Ort" begreifen.

Zuflucht auf Zeit. Lageralltag in Kempten 1945 bis 1949 aus der Sicht des litauischen Fotografen Kazys Daugėla, bis 7. Mai, Kempten-Museum im Zumsteinhaus, Residenzplatz 31, 87435 Kempten.

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