Kempten:Der Eismeister aus dem Allgäu

  • Der Italiener Adriano Colle ist deutscher Meister im Eismachen. Er betreibt seine Eisdiele "Venezia" in Kempten.
  • Gefragte Eissorten sind zum Beispiel "Gewürze des Orients" oder "Löwenzahn".
  • Colle produziert sein Eis in langer Familientradition - doch noch ist unklar, ob seine Töchter sie aufrecht erhalten wollen.

Von Philipp Kosak, Kempten

Angela Merkel scheint es zu schmecken. Die Kanzlerin löffelt ruhig das Eis aus ihrem Pappbecher, während sich Fotografen und Kamerateams um sie drängen. Vielleicht erinnert sich Merkel in diesem Moment an ihren letzten Urlaub auf Ischia. Säuerlich schmeckt das Joghurteis, nussig-süß die Nougatcreme darin. Zimt und Kardamom geben dem Eis eine würzige Note. Die gerösteten Pistazien knacken zwischen den Zähnen der Kanzlerin.

200 Kilogramm Eis am Tag

"Gewürze des Orients" heißt die Sorte, die Angela Merkel neulich auf der Handwerksmesse in München probiert hat. Mit dieser Kreation gewann Adriano Colle, Gelatiere aus dem Allgäu, im vergangenen Sommer den deutschen Meistertitel im Eismachen.

Colle hantiert in der schmalen Küche seines Eiscafés in Kempten, die er "Eislabor" nennt. In den Sommermonaten schuftet der schlanke Mann mit den verstrubbelten Haaren hier von sechs Uhr morgens bis in die späten Abendstunden und produziert am Tag bis zu 200 Kilogramm Eis. Der 42-Jährige püriert Erdbeeren mit einem Mixstab, groß wie eine Gartenkralle. Hinter ihm blitzen die verchromten Eismaschinen. Sie sind das Herzstück der Eisküche, eine Maschine kostet 40 000 Euro. Daneben stehen zwei kleinere Apparate: Pasteurisierer. Mit ihnen wird Milcheis erhitzt, damit das Eis besonders cremig wird.

"Früher fragten die Kunden nach Sahne-Kirsch, heute nach Neuem"

Colle gibt einen Löffel Honig und eine Schaufel Zucker hinzu. Dann schüttet er den Eimer mit der roten Flüssigkeit schwungvoll in die Maschine und drückt einige Knöpfe. Das Brummen der Eismaschine mischt sich mit dem Gedudel italienischer Popsongs aus dem Radio. Auf dem Regal stehen Schokoladen- und Amarena-Soßen in Plastikflaschen, verschiedene Nusspasten, daneben ein Einmachglas mit einer grünen, klebrigen Flüssigkeit. "Daraus mache ich Löwenzahneis", erklärt Colle.

160 verschiedene Sorten produziert er im Verlauf einer Saison, bis zu 45 pro Tag. Auch ein Eis mit süß eingelegten Oliven gehört zum Sortiment. "Früher kamen die Kunden und haben gefragt, ob es Sahne-Kirsch gibt. Heute fragen sie, ob es etwas Neues gibt."

Vor 26 Jahren entschied der gelernte Schreiner und Restaurator, im Eiscafé seiner Eltern zu arbeiten, und besuchte nebenbei eine Eismacher-Schule in Italien. Innovativ war er schon damals: "Ich habe versucht, meine Ideen durchzusetzen, und habe zum Beispiel Eistorten gemacht." Vater Colle, gewöhnt an jahrelange Routinen, war davon zunächst wenig begeistert, ließ den Sohn aber gewähren. "Wenn Kunden gefragt haben, was das für eine Eissorte ist, hat er gesagt: Das müssen Sie diesen Künstler fragen, ich kann Ihnen nur Vanille und Erdbeere erklären."

Val di Cadore - das Tal der italienischen Eismacher in Deutschland?

Im Eiscafé Venezia hängen alte Familienfotos an den Wänden: Großväter, Großmütter, Eltern, Großtanten und Großonkel blicken aus ihren Rahmen auf die Gäste herab. Adriano Colles Urgroßvater war der erste, der nach Deutschland auswanderte, um Eis zu verkaufen. Ein Foto von ihm gibt es nicht, dafür einen Passierschein, ausgestellt im Namen des italienischen Königs Umberto I.

Das Schriftstück aus dem Jahr 1899 garantiert Francesco Colle freies Geleit nach Preußen. Adriano Colle entziffert die schnörkelige Handschrift: 32 Jahre alt war sein Urgroßvater damals, schwarze Haare soll er gehabt haben, Bart und Augenbrauen sollen blond gewesen sein, die Augen grau. "Ehrlich gesagt kann ich mir ihn nur sehr schlecht vorstellen", sagt Colle lachend.

14 Millionen Italiener verließen zwischen 1876 und 1915 ihr Heimatland. Auch aus dem Cadore-Tal in Venetien, aus dem die Familie Colle stammt, emigrierten damals viele, zunächst vor allem die Väter. Drei Viertel aller italienischen Eisdielenbesitzer in Deutschland haben ihre Wurzeln im Val di Cadore und dem benachbarten Zoldo-Tal.

Früher Eisblöcke aus den Bergen, heute Vollautomatik

Der Weg über die Alpen war schwer, mit Schubkarren und Fahrrädern transportierten sie ihre Habseligkeiten. Im Sommer verkauften sie Eis, in den Wintermonaten kehrten die meisten nach Italien zurück. Adriano Colle hält an dieser Tradition fest, immer im Oktober fährt er zurück in sein Heimatdorf.

Verkauft wurde das Eis in den ersten Jahren oft auf der Straße. Ein Bild zeigt Colles Großonkel mit Schürze, Krawatte und Schirmmütze, posierend neben einem Wagen aus Holz. "Gefrorenes - Vanille und Chocolade" ist in säuberlichen Lettern auf dem Eiswagen zu lesen. Daneben hängt ein Foto von Colles Großvater, aufgenommen 1927 in Nürnberg.

Der Großvater, kräftige Statur, damals 28 Jahre alt, steht mit verschränkten Armen im Eingang seines Eissalons. Wäre da nicht das sauber gescheitelte Haar, das Oberhemd und die Weste, man könnte ihn heute für einen Türsteher halten. Vollautomatische Eismaschinen wie in Adriano Colles Eislabor waren damals noch nicht erfunden. Das Eis, das in Blöcken aus den Bergen herangeschafft, mit Salz versetzt und in Kellern gelagert wurde, musste mit der Hand bearbeitet werden. "Da hat man schon Muskeln gebraucht", sagt Adriano Colle.

Das Ende der Eismacherdynastien?

Eisdielen, die von traditionsbewussten Gelatieri wie Adriano Colle geführt werden, werden heutzutage immer seltener. Deutsche oder Zuwanderer aus anderen europäischen Ländern übernehmen, Eiscafés werden zu Ketten zusammengeschlossen. Viele der italienischen Familien ziehen sich nach Italien zurück - wie Adriano Colles Eltern.

Gleichzeitig verlieren die in Deutschland lebenden Nachkommen der Eismacherdynastien zunehmend ihren Bezug zu Italien: "Meine Cousins haben deutsche Frauen, kommen höchstens mal an Weihnachten nach Italien und können kein Italienisch mehr", sagt Colle und sieht für einen Moment sehr nachdenklich aus.

Colles Frau Antonella, die mit ihm gemeinsam das Eiscafé führt, unterbricht ihren Mann: "Die Kinder stehen im Stau." Die 19-jährige Elisabetta und ihre kleine Schwester Elena sind auf dem Weg nach Deutschland. Die 16-jährige Elena besucht die Schule in Italien und lebt bei den Großeltern. Elisabetta studiert in Triest. Sie soll das studieren, was ihr Spaß macht, sagen ihre Eltern.

Dolmetscherin will sie momentan werden, manchmal begleitet sie aber auch ihren Vater zu Eismacher-Meisterschaften oder auf Messen. Vielleicht entscheidet sie sich doch noch, die Tradition ihrer Familie fortzuführen. In fünfter Generation. Ihren Vater würde es freuen.

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